: Rüdiger Zill
: Der absolute Leser Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie
: Suhrkamp
: 9783518765043
: 1
: CHF 41.00
:
: Biographien, Autobiographien
: German
: 500
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Hans Blumenbergs Denken ist eng verbunden mit seiner eigenen Lebenszeit und mit der Gesellschaft der alten Bundesrepublik. Unter dem Nationalsozialismus wegen seiner jüdischen Mutter verfolgt, geprägt vom katholischen Milieu seines Vaters und einem humanistischen Elitegymnasium in der Hansestadt Lübeck, war er seit frühester Jugend ein obsessiver Leser, der Literatur, Philosophie, Theologie, Naturwissenschaften und Zeitgeschichtliches gleichermaßen aufgesaugt und daraus ein herausragendes Werk geschaffen hat.

Im Rückgriff auf bisher unerschlossene Archivquellen legt Rüdiger Zill in seinem reich bebilderten Buch die lebensgeschichtlichen Wurzeln dieses Werks frei und zeigt, dass es keineswegs so monolithisch ist, wie es auf den ersten Blick erscheint. Vielmehr versteht man es nur, indem man seine Wege und Umwege nachvollzieht sowie die Vernetzungen mit den Wissenschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.Der absolute Leser gewährt erstmals einen umfassenden Einblick in die Werkstatt eines Autors, der wie kein zweiter die Entwicklung seiner Arbeit akribisch dokumentiert hat. Hans Blumenberg beim jahrzehntelangen Lesen, Entwerfen und Formulieren über die Schulter zu sehen heißt auch, etwas über das faszinierende Handwerk des Denkens selbst zu lernen.



<p>Rüdiger Zill, geboren 1958, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie in Berlin und London. Nach Promotion und Lehrtätigkeiten u.a. an der TU Dresden und der New School of Social Research in New York ist er seit 1997 wissenschaftlicher Referent am Einstein Forum in Potsdam.</p>

7Die Lesbarkeit des Denkens: Ein Prolog


Auf Lesen und Tod


»Manchmal spielt die Geschichte mit Zahlen.«1

Abb. 1: Hans Blumenberg mit »Hühnergott«, frühe 1950er Jahre.

Am 28. März 1942, in der Nacht vor Palmsonntag, flogen britische Bomber einen Angriff auf Lübeck und zerstörten große Teile der alten Hansestadt; die traditionsreichen Straßen und Häuser verwandelten sich in Schutt und Asche, so auch das Haus des Verlegers von Kunstdrucken Josef Carl Blumenberg. Die Familie überlebte, nur der Collie Axel kam um. Für den Sohn Hans bedeutete diese Nacht dennoch eine Art ersten Tod, denn die gesamte Bibliothek des Einundzwanzigjährigen wurde bei dem Angriff vernichtet: ein großer Bestand an Werken aus Philosophie, Theologie, Geschichte, Kunstgeschichte, Naturwissenschaft und Literatur.

Auf den Tag genau 54 Jahre später, am 28. März 1996, starb im westfälischen Altenberge bei Münster der inzwischen viel beachtete Philosoph Hans Blumenberg, umgeben von seiner längst wieder auf tausende von Bänden angewachsenen Bibliothek und auch mehreren zehntausend von ihm selbst geschriebenen Seiten.

So kontingent die kalendarische Koinzidenz beider Daten ist, so bedeutsam kann man sie finden, fühlt man sich doch an eine alte allegorische Form der Sinnstiftung erinnert. Seit der Patristik kennen Theologen die Figuraldeutung, bei der ein realgeschichtliches Ereignis des Neuen Testaments auf ein anderes aus dem Alten zurückbezogen wird. Das frühere hat nicht nur für sich selbst Bedeutung, sondern weist auch auf das spätere voraus, kündigt es an: Das eine ist die Verheißung dessen, was das andere er8füllt. Manchmal ist, um diese Beziehung herzustellen, ein »bestimmter Interpretationswille« erforderlich.2 Das gilt umso mehr für die säkularisierte Form, die sich gelegentlich ähnlicher Interpretationsmuster bedient. Die Präfiguration ist eine der Möglichkeiten, den Ereignissen imaginative Prägnanz zu verleihen, eine der Wirkungsweisen, »mit denen die Bedeutsamkeit ›arbeitet‹«.3 Der Bedeutsamkeit und ihren Mitteln ist ein zentrales Kapitel vonArbeit am Mythos gewidmet. Und auch wenn die Präfiguration hier noch nicht explizit genannt wird, so gehört sie doch eindeutig dazu. Präfiguration ist vor allem dann das Mittel der Wahl, wenn historische Akteure in der Geschichte nach Vorgängern suchen, um deren Schicksal als Entscheidungshilfe für eigene Entschlüsse zu Rate ziehen zu können. Aber auch als Sinndeutungsangebot von Ereignissen, die den Deutenden nicht unmittelbar selbst betreffen, leistet sie ihre Dienste. Natürlich ist diese Prägnanzbildung eine »Mythisierung«, und zwar eine, die »an die Grenze der Magie« heranreicht.4 Aber auch wenn man sich dieser Mythisierung entziehen zu können glaubt, bleibt ihre intellektuelle Faszination bestehen. Wo sich eine Beziehung so sehr aufdrängt, kann man sie als glückliche Fügung sehen, die einer Sache ihr Symbol von selbst verleiht. Magische Beziehungen wirken auch bei denen, die nicht an sie glauben.5

Bedeutende Teile der Bibliothek, die sich Blumenberg nach der Bombardierung Lübecks über die Jahre wieder aufgebaut hat, sind im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrt und ebenso öffentlich zugänglich wie das, was durch ihren Leser daraus hervorgegangen ist: Blumenbergs Arbeiten in Gestalt seiner Buchmanuskripte, und zwar die zu Lebzeiten oder postum veröffentlichten ebenso wie die zahlreichen bis heute nicht publizierten, außerdem Vorarbeiten, Briefe, Notizen und Karteikarten – eine umfangreiche literarisch-theoretische Denkmaschinerie.6

Die Arbeit an dieser Maschinerie war eine an und mit Texten und erzeugte ihrerseits wieder Texte. Blumenberg lebte intensiv mit seinen Lektüren und in der Arbeit an seinen Manuskripten. Beides dokumentierte und organisierte er für sich selbst auf einer9zweiten Ebene. So finden sich im Archiv seine Leselisten, seine Produktionslisten, seine Vortrags- und Vorlesungslisten und sogar eine chronologische Auflistung der durchpaginierten Karteikarten.

Blumenbergs Philosophie ist die eines Lesers – und das mit voller Überzeugung. Nur Spott hatte er für jene Philosophen übrig, »deren Stolz es ist, wenig gelesen zu haben. Sie stocken gern das Wenig zu einem Fast-nichts auf. Man wird sanft genötigt, die kaum vorhandene Bibliothek auf ein paar gehobelten Brettern zu besichtigen und sich zu überzeugen, daß die überwiegenden Dedikationsstücke nur hinten beim Register aufgeschnitten sind.«7 Selbst Kant soll zwar ein Wenig-Leser gewesen sein, habe er doch sogar Platon und Aristoteles nur aus Jacob BruckersKurtze Fragen aus der Philosophischen Historie gekannt. Allerdings sei die Geisteshistorie doch heute vorangeschritten, nicht zuletzt durch Hegels »Elevation der Philosophiegeschichte zur Arbeit des Begriffs«: Ohne die Kenntnis des durch die Vorgänger Erarbeiteten komme man daher nicht mehr aus. Natürlich könne man versuchen, ein Originaldenker zu werden. Und manchem ist es auch noch gelungen: Husserl ist das beste Beispiel – aber das Risiko zu scheitern sei doch groß.

Originaldenker sind vermutlich zu allen Zeiten rar gewesen. Ein Großteil der Philosophie ist in hohem Grade das Resultat von Lektüre, auch wenn sie sich stets das Selbstdenken auf die Fahne geschrieben hat. Meist ist Philosophie, wo immer sie professionell auftritt, das denkende Fortschreiben von Gelesenem – das Weiterreden auch von Gehörtem –, aber die Arten der Verarbeitung des Aufgelesenen sind doch vielfältig. Sie unterscheiden sich schon darin, wie sie dem Gelesenen gegenübertreten.

Für einen analytischen Philosophen ist es gleichgültig, ob er mit einem Kollegen diskutiert oder einen Text von Aristoteles studiert. Er behandelt beide gleichermaßen als Gesprächspartner, an deren Argument er interessiert ist: ein Argument, das er prüft und widerlegt oder übernimmt, gegebenenfalls ausbaut. Ein Begriffsgeschichtler kann und will hingegen nicht vom historischen Index10seines Gegenstands absehen, sein hermeneutischer Aufwand ist dementsprechend größer. Ein Text wird nicht nur daraufhin gelesen, was er sagt, möglichst in all seiner Klarheit, sondern auch daraufhin, was in ihm mitschwingt: der Horizont, vor dem sich etwas Geschriebenes entfaltet, nicht zuletzt das, was der Autor selbst gelesen hat. Denn immerhin kann man die Frage stellen: In welcher Hinsicht speist die Lektüre den eigenen Gedankengang? Übernimmt er Motive und Ideen aus ihr (gelegentlich bis an den Rand des Plagiats), grenzt er sich von ihr ab, kritisiert er sie?

Dazu gehört ebenso, was gerade nicht »rezipiert« wird, um einen Ausdruck zu benutzen, der zu Blumenbergs Zeit aufkommt: Was im Horizont hätte sein können, es aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht war, was sich als Problem hätte stellen können, aber nicht über die Wahrnehmungsschwelle gelangte. So soll hier nun auch das Werk von Hans Blumenberg gelesen werden. Aber ist es nicht vermessen, diese Lektüre – oder ihren Gegenstand? – unter den Titel eines »absoluten Lesers« zu stellen? Natürlich kann dieses Buch nicht halten, was sein Titel zu versprechen scheint. Denn der absolute Leser ist ein Ding der Unmöglichkeit, hieße er auch Hans Blumenberg. Warum soll diese Wendung dennoch Leitmotiv des Folgenden werden?

Zunächst einmal bietet sie sich an, weil die Figur des Lesers eine Obsession von Blumenberg selbst war. Und natürlich stammt auch der Begriff des »absoluten Lesers« von ihm: In einer späten Glosse aus den »Unerlaubten Fragmenten« berichtet er von den Ansprüchen Arthur Schopenhauers an seine Schüler. Wer in seiner Vorlesung sitze, verkündete Schopenhauer, von dem erwarte er, dass dieser alle seine gedruckten Texte kenne.8 Blumenberg versucht den möglichen Konsequenzen dieses Gedankens nachzugehen: Müsse der so Angesprochene nicht eigentlich auch alles lesen, was Schopenhauer selbst gelesen habe, um dessen Texte adäquat verstehen zu können, also ...