»Der Papa ist tot«
ANGELINA Ich erinnere mich noch an den Anruf, als sei es gestern gewesen. Ich bin gerade dabei, das Bad zu putzen – es war in der ersten eigenen Wohnung, die Kilian und ich bezogen hatten, während wir beide in Geisenheim Weinbau studierten –, als ich das Klingeln höre, mir das Telefon schnappe und die Nummer von Kilians Mutter auf dem Display sehe. Sie ruft regelmäßig an, um zu fragen, wie es uns geht, also denke ich mir nichts dabei, als ich sie fröhlich begrüße. Doch schon wenige Augenblicke später merke ich, dass es diesmal kein netter Plausch werden wird. Iris ist völlig außer Atem, ihre Stimme klingt zitterig, überschlägt sich, sie weint: »Angelina … es ist … ein Unfall … Kilians Papa hatte einen Unfall … Ihr müsst kommen, beide, sofort!« Dann legt sie auf. Mir gehen tausend Gedanken durch den Kopf: Was heißt Unfall? Ist Uli verletzt? Wie schlimm ist es? Was ist überhaupt passiert? Sofort versuche ich, Kilian auf dem Handy zu erreichen. Mir ist klar, dass es schwierig werden wird, da er gerade Vorlesung hat.
»Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.« Klar! Er hat das Handy ausgeschaltet. Hektisch wähle ich die Nummer eines gemeinsamen Kommilitonen, Philipp. Der müsste ebenfalls in der Vorlesung sitzen. Aber auch der geht nicht ran. Vielleicht Julia? Diesmal habe ich Glück. »Hi Angelina, ich kann grad nicht, bin in der Vorlesung«, höre ich die Freundin flüstern und habe Angst, dass sie wieder auflegt, bevor ich etwas sagen kann.Bitte bleib dran. »Ist Kilian bei dir? Es ist wichtig.« Einen Moment ist es still, dann sagt sie: »Er sitzt drei Plätze weiter. Ist etwas passiert?«
»Kilians Papa hatte einen Unfall. Ich komme Kilian jetzt holen. Er soll rauskommen. Sag ihm das, bitte. Wir fahren zu ihm nach Hause.«
Auf dem Parkplatz vor der Fachhochschule lasse ich den Motor laufen, während ich auf Kilian warte. Als er einsteigt, fragt er sofort: »Was ist los?« Ich bin unsicher, was ich sagen soll. So genau weiß ich es ja selbst nicht. »Deine Mama hat angerufen. Dein Papa hatte einen Unfall. Mehr weiß ich auch nicht.« Kilian reicht das nicht: »Was ist passiert? Ist er verletzt? Was ist passiert?« Ich versuche, ruhig zu bleiben: »Kilian, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass wir so schnell wie möglich nach Hause müssen.«
Normalerweise brauchen wir mit dem Auto für die 130 Kilometer von Geisenheim nach Bremm etwa 90 Minuten. Dieses Mal dauert die Fahrt kaum eine Stunde. Ich fahre, so schnell ich kann. Als könnten wir das Unglück dadurch eindämmen. Während der Fahrt sprechen wir kein Wort. Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Die Zeit scheint wie eingefroren, wir stecken fest zwischen Bangen und Hoffen. Die Stille ist erdrückend. Ich schalte das Radio ein, um ihr etwas entgegenzusetzen, nehme aber kaum wahr, was aus den Boxen kommt. Bis ein Sprecher die regionalen Kurznachrichten liest: »Ulrich Franzen, Steillagenwinzer im Bremmer Calmont, ist tragisch verun… « Schnell schalte ich das Radio aus und schiele zu Kilian hinüber. Hat er etwas gehört? Ich will noch nicht wissen, was passiert ist. Zumindest nicht so. Und schon gar nicht will ich, dass Kilian die Einzelheiten aus dem Radio erfährt. Der tut zumindest so, als habe er nichts bemerkt. Solange wir nichts Endgültiges wissen, besteht Hoffnung. Daran klammern wir uns. Die Schlimmste aller Möglichkeiten sprechen wir nicht aus.
Kurz vor Bremm ist eine Durchfahrt gesperrt, der Verkehr staut sich. Ich brettere kurzerhand über den Grünstreifen an der Schlange der Wartenden vorbei. Endlich sind wir da. Als wir am heimischen Gut vorfahren, ist der Hof bereits voller Menschen: Nachbarn, Freunde, Verwandte, der halbe Ort. Viele mit Tränen in den Augen. Als wir aussteigen, ruhen alle Blicke auf uns, doch niemand spricht uns an. Rasch gehen wir in Richtung Haustür. Schweigend bilden die Menschen eine Gasse für uns.
Drinnen wartet die Familie: Onkel Horst, der Bruder von Kilians Mama; Maximilian, Kilians 18 Jahre alter Bruder; Verena, seine 20 Jahre alte Schwester – und Iris, Kilians Mutter. Sie sitzt auf der Eckbank am Tisch. Ihre Wangen sind tränenüberströmt, als sie zu uns aufsieht und uns schluchzend das letzte bisschen Hoffnung nimmt: »Der Papa ist tot.«
*
KILIAN Nachdem wir die anderen begrüßt, uns umarmt und erste Tränen vergossen haben, sitzen wir gemeinsam am Esstisch. Mama berichtet von dem, was sie über das Unglück weiß. Die Nachbarn haben es berichtet: Papa wollte Pflanzenschutzmittel in einer der Flachlagen, beim alten Kloster, ausbringen. Als er mit dem Traktor über einen Erdhügel fahren wollte, geriet das Gefährt in Schräglage und kippte zur Seite. Papa ist genau auf einen Rebstock gefallen, der sich in sein Herz gebohrt hat. Als die Nachbarn b