: Cyrill Stieger
: Die Macht des Ethnischen Sichtbare und unsichtbare Linien auf dem Balkan
: Rotpunktverlag
: 9783858699343
: 1
: CHF 17.90
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: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 200
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
30 Jahre nach dem Zerfall Jugoslawiens Cyrill Stieger hat in den vergangenen Jahren die Orte wieder besucht, über die er während der Kriege berichtete; er war in Kroatien, Serbien, Bosnien, Kosovo. Er sprach mit den Menschen, auch mit Amtsträgern, fragte sie, ob sich die in den Kriegen aufgerissenen ethnischen Trennlinien, etwa in Vukovar oder in Mitrovica, verfestigt haben oder ob sie sich mit einer neuen Generation aufweichen. Was muss passieren, um den Fluch des Ethnischen zu brechen? Das Buch verbindet anschauliche Reportagen mit politischen und historischen Analysen. Es geht um Identitäten und um die Folgen des Nationalismus, um unvereinbare Geschichtsbilder und darum, wie Erinnerung von nationalistischen Politikern manipuliert wird, außerdem um die Schwierigkeiten der Aussöhnung. Es sind Themen, die in Zeiten des erstarkten Nationalismus und zunehmender autoritärer Tendenzen auch anderswo in Europa, in Polen und in Ungarn, aktuell sind. Aber der Pragmatismus und die Hoffnungen der Menschen auf dem Balkan geben Zuversicht.

Cyrill Stieger, 1950 geboren, studierte slawische Philologie und osteuropäische Geschichte in Zürich und Zagreb. Nach Stationen als Assistent an der Universität Zürich und Mitarbeiter der Schweizer Botschaft in Moskau war er von 1986 bis 2015 Balkankorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung. Heute lebt er wieder in Zürich. 2017 erschien sein Buch Wir wissen nicht mehr, wer wir sind. Vergessene Minderheiten auf dem Balkan.

»Wir leben hier ganz normal«


Verschiedene Welten in Vukovar


Es ist ein düsterer Tag in Vukovar. Es regnet in Strömen, ohne Unterlass. Dunkel hängen die Wolken über der Trümmerwüste. Zwei Tage nach der Einnahme der ostkroatischen Stadt durch die Jugoslawische Volksarmee und serbische Milizen am 18. November 1991 bietet sich den aus Belgrad herangekarrten Journalisten ein Bild des Grauens. Ganze Straßenzüge sind verwüstet, viele Häuser ausgebrannt. Das Zentrum ist mit Schutt und Trümmern übersät. Glassplitter bedecken die morastigen Straßen. Verkohlte Baumstämme ohne Äste ragen in den Himmel, überall liegen verbrannte Autowracks. Am Rande der Straße verwesen tote Tiere, vor einem zerschossenen Haus liegen zwei Leichen mit dem Gesicht nach unten. In einem Innenhof beim Krankenhaus werden den Journalisten zwei Dutzend entstellte Leichen präsentiert. Ein serbischer Offizier hat uns dorthin geführt. Eine Leiche ist fast völlig verkohlt, bei einer andern fehlt der halbe Kopf. Einige haben ein Etikett mit einer Nummer am großen Zeh. Sind es Patienten des Krankenhauses? Und wenn das der Fall ist, warum liegen die Leichen hier neben den zerschossenen Ambulanzfahrzeugen? Der Offizier behauptet im Brustton der Überzeugung, es handle sich um unschuldige serbische Opfer der »kroatischen Neofaschisten«. Die Frage, woher er denn wisse, dass die Opfer Serben seien, bleibt unbeantwortet, sie wird als Provokation empfunden.

In der Kaserne von Vukovar sitzen an einem langen Tisch serbische Offiziere und Soldaten und einige verstörte Zivilisten mit geröteten Augen und bleichen Gesichtern. Sie werden als Serben vorgestellt, die in den Kellern ihrer Häuser wochenlang ausgeharrt hätten, ohne Wasser und Strom. Das hätten ihnen die »kroatischen Neofaschisten« angetan. Vom Leiden der kroatischen Bewohner, die während dreier Monate dem serbischen Beschuss ausgesetzt gewesen waren, spricht niemand. Wenn die Armeeangehörigen während dieser makabren Inszenierung das Wort an die bleichen Gestalten richten, nicken diese stumm, mit ausdruckslosen Augen. Dann sagt einer der Offiziere: »Wir haben das von den kroatischen Ustaša-Horden geknechtete serbische Volk nach heldenhaftem Kampf befreit und damit einen Genozid verhindert.« Er spricht von einem »großen Sieg des serbischen Volkes«. In V