: Ruska Jorjoliani
: Drei Lebende, drei Tote Roman
: Rotpunktverlag
: 9783858699329
: 1
: CHF 17.90
:
: Erzählende Literatur
: German
: 240
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Auf der falschen Seite Es ist der 10. März 1946, die italienischen Frauen gehen zum ersten Mal wählen, als sich am Bahnhof von Florenz zwei junge Menschen begegnen. 'Ich war bei den Partisanen', sagt er zu ihr, 'und ich habe niemanden mehr.' Ende der fünfziger Jahre sind Aurora und Modesto ein kinderloses Lehrerehepaar; dem ermatteten Alltag entfliehen beide mit einer Liebschaft. Eines Tages erhält Modesto einen anonymen Brief, der einen 'alten Fehler' heraufbeschwört, und ist sichtlich aus der Fassung gebracht. Erst verbarrikadiert er sich im Klassenzimmer, als man ihn nach Hause schickt, kauft er sich ein Paar Lederstiefel und tritt eine Reise in die Vergangenheit an, bei der ein Geräteschuppen in den Abruzzen, ein dressiertes Äffchen, ein Onkel im schwarzen Hemd, ein müder Gaul im Schnee, eine schallende Ohrfeige und ein anderes Paar Stiefel, das in einer sibirischen Hütte den Besitzer wechselt, eine Rolle spielen. Ruska Jorjoliani, italienische Autorin mit georgischen Wurzeln, legt in ihrem so vielschichtigen wie ironisch-scharfsinnigen Familienroman Spuren in die bewegte Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, Spuren, die sich kreuzen, umkreisen, manchmal auch verfehlen, aber nach und nach den Boden der Gegenwart untergraben.

Ruska Jorjoliani wurde 1985 in Mestia, Georgien, im Großen Kaukasus geboren. Anfang der neunziger Jahre flüchtete die Familie vor ethnischen Säuberungen nach Tiflis, wo Ruska Jorjoliani, nach regelmäßigen Aufenthalten bei einer Gastfamilie in Palermo, das italienische Gymnasium besuchte. Seit 2007 lebt sie in Palermo und hat dort ein Philosophiestudium abgeschlossen. Als sie mit italienisch verfassten Gedichten einen Literaturwettbewerb gewinnt, entscheidet sie sich, auf Italienisch zu schreiben. 'Drei Lebende, drei Tote' ist nach 'Du bist in einer Luft mit mir' (Preis der Hotlist 2016) ihr zweiter Roman und hat in Italien für Aufsehen gesorgt.

2.


Die Physik der alltäglichen Dinge


Er

Das Gefühl, etwas stimme nicht, überkam Aurora, als ihr Mann, bevor er sich auf den Weg zur Schule machte, entschlossen das Handtuch auffing, das sie ihm von der Schwelle des Badezimmers aus zuwarf.

Und zwar weil Modesto in solchen Dingen, wie in so vielen anderen, eigentlich ein Weltmeister der Unentschlossenheit war. Wenn jemand auf die Idee kam, ihm irgendetwas zuzuwerfen – eine Streichholzschachtel, ein Glas Marmelade –, bekam man den Eindruck, er wollte es mit seinem Blick, der umgekehrt verwirrt diesem Ding entgegenstrebte, allen physikalischen Gesetzen zum Trotz in der Luft festnageln. Flog es aber trotzdem weiter auf ihn zu, vollführte Modesto andeutungsweise eine L-Bewegung, wie sie das Pferd im Schachspiel macht: einen Schritt zur Seite und dann zwei nach hinten oder vorne. Seine Lebensphilosophie lautete mit anderen Worten »ausweichen«. Damit teilte sich das ganze Universum in zwei Sorten Dinge: jene, die, um es so zu nennen, auf ihn zukamen und ihn oft überrumpelten, und die anderen. Letztere verweilten diskret, jederzeit zugänglich, an Ort und Stelle, etwa die Bücher oder der Sekretär aus lackiertem Holz, den eine sich als Landadlige gebärdende Tante seiner Frau hinterlassen hatte.

»Sieh an, sieh an!«, lächelte Aurora. »Signor Pacini fängt den Ball!«

»Was ist daran so besonders?«

»Ach, nichts«, sagte sie, trat ins Schlafzimmer und ging zum Schrank. »Fast nichts.«

Modesto hüpfte ihr nackt und barfuß bis zur Tür hinterher, wo er innehielt, da er sich nicht weiter vorwagte. Über den Innenspiegel des Schranks sah Aurora zu, wie ihr Mann bibbernd seinen nassen Körper abtrocknete: Die Pobacken funkelten im Wechsel, gaben für Augenblicke den Blick auf den Penis frei, der sich unter dem dunklen Haarfleck zusammengezogen hatte.

Als Modesto fertig war, trottete er ins Zimmer, warf das Handtuch aufs Bett und landete beinahe einen Volltreffer,