: Rolf Niederhauser
: Seltsame Schleife Roman
: Rotpunktverlag
: 9783858696281
: 1
: CHF 26.40
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 725
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Nominiert für die Hotlist 2014 Pit Dörflinger, 32, glaubt, dass er einen Menschen getötet hat. Nur verworren allerdings erinnert er sich an die Umstände. Von Cambridge, Massachusetts, aus, wo er am M.I.T. in einem Artificial-Life-Projekt mitarbeitet, das die elementaren Funktionsprinzipien des menschlichen Bewusstseins rekronstruieren soll, hat er sich auf die weite Reise nach Texas gemacht, um mit seiner Freundin und deren Eltern Weihnachten zu feiern. Ein Telefonat wirft ihn aus der Bahn, er landet bei einem Freund in Mexiko, von wo es ihn weiter nach Kolumbien treibt. Dort verliebt er sich in eine Ex-Guerillera, in deren Leben es erstaunliche Parallelen zu seinem eigenen gibt. Unversehens gerät er in den Sog einer Bewusstseinsforschung ganz anderer Art, die ihn zuru?ck in die Kindheit fu?hrt und seine Identität immer fragwu?rdiger erscheinen lässt. Dörflinger muss sich den Fakten stellen. Nur - was sind die Fakten? Mit seinem gross angelegten, kühn konstruierten Roman »Seltsame Schleife«, der auch in seiner Form eigenwillig daherkommt, meldet sich Rolf Niederhauser nach über zwanzig Jahren Schweigen auf beeindruckende Weise zurück.

Rolf Niederhauser, geboren 1951 in Zu?rich, ist mit Das Ende der bloßen Vermutung und Nada oder Die Frage eines Augenblicks (beide bei Luchterhand) bekannt geworden. Der Roman Seltsame Schleife, mit dem sich der Autor nach u?ber zwanzig Jahren in beeindruckender Weise wieder zu Wort meldet, basiert auf umfangreichen Recherchen in Nord-, Mittel- und Su?damerika. Niederhauser lebt in Basel.

1.


DIE REISE


Pero una vez que hube recorrido por entero el círculo, me di cuenta…1

Johann Wolfgang von Goethe,

Los años de aprendizaje de Wilhelm Meister

BUENAVENTURA, schreibt er, ist ein dreck nest– wobei: ein dreck nest mit drei hundert tausend einwohnern, jenseits von allem was ich mir vorgestellt hatte– aber hier, also, bin ich auf die welt gekommen.

»???????????!«, sagt der kleine russische matrose, derrum anbietet, weil es keinenvodka mehr gibt, und der jeden umarmt:

— Where do you come from?

— I’m from here—sage ich— I was born here.

Er ist der erste dem ich das sage, ohne weitere erklärung, die er auch gar nicht verlangt. Stattdessen hängt er mir seinen armüber die schultern und eine alkoholfahne vors gesicht, während er wieder Luci anstiert, ihr Rasta-haar und ihre dunkle haut, die im violetten licht dieser bar-terrasse einen metallischen glanz hat, darin das perlmutter-weiss ihrer augen, das leuchtet wie jetzt der monitor meines notebooks in der nacht, in dieser fetten nacht die vom meer her durchs offene fenster dringt, während ich sehe wie er ihre hände mustert, ihre geschmeidigen hände, die wieder und wieder in der erinnerung jetztüber meine knie, meine schenkel huschen, schlank und flink wie die kleinen echsen auf dem Rio Cacarica, die in gestrecktem laufübers wasser flitzten, Jesus-Christus echsen, basiliske, und wenn ich seine blicke sehe, die blicke des kleinen matrosen, dessen namen ichüberhört habe, ahne ich schon was er mit»???????????« meint, lange bevor ich unterwww.friends-partners.org/oldfriends/language/russian-alphabet.html eine tafel mit cyrillischen lettern samt aussprache finde, mit deren hilfe ich das wort zu buchstabieren versuche, um es anschliessend in einem online dictionary zuübersetzen.

Luci, schreibt er weiter, die den Russen anscheinend kennt oder jedenfalls nicht zum ersten mal sieht, schickt ihn fort, schiebt ihn beiseite, sanft aber entschieden, bis er endlich zum nächsten tisch wankt. Später sehe ich wie zwei andere ihn packen undüber das niedrige geländer werfen, das die terrasse von der strasse trennt, während Luci mich immer noch zum tanzenüberreden will:

—¡Venga!—bettelt sie—¡Vamos a bailar!

—No—sage ich— No quiero.

Aber was sonst? Ich verstehe dass sie das wissen möchte, während sie jetzt meine hand nimmt und küsst und meine finger zwischen ihre lippen schiebt, einzeln, um sie dann durch den mund zu ziehen, als wollte sie wie mit dem granit ihrer zähne einen unsichtbaren film von meiner haut kratzen, eine kruste oder hülle, unter der mein finger mir vorkommt wie ein verpupptes insekt– jedenfallsüberkommt mich plötzlich ein gefühl von nacktheit und schutzlosigkeit, das mir durch mark und bein geht:

—¡Vamos a dar una vuelta!— sage ich, bloss um aus dieser VENUS BAR weg zu kommen.

Draussen, obwohl noch früh am abend, ist es schon wieder fast so dunkel wie heute morgen um vier oder halb fünf, als die beiden matrosen mich durch die mondlose nacht hier an land gebracht haben–oscuro (das Spanische trifft’s genauer, finde ich). Nur da und dort hängt eine glühbirne unter einem vordach, fällt etwas licht aus einem fahl beleuchteten schaufenster oder einer offenen tür. Aber auch im finstern ist viel volk auf der strasse, dazu gibt es musik aus allen winkeln und löchern wie den ganzen tagüber auch schon, M