: Marco Leuenberger, Loretta Seglias
: Versorgt und vergessen Ehemalige Verdingkinder erzählen
: Rotpunktverlag
: 9783858695727
: 4
: CHF 24.50
:
: Gesellschaft
: German
: 340
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Im 19. und 20. Jahrhundert wurden in der Schweiz Hunderttausende Kinder fremdplatziert, viele davon 'verdingt'. Das heißt, sie mussten bereits im Kindesalter für ihren Lebensunterhalt arbeiten. Im Rahmen des Projektes 'Verdingkinder, Schwabengänger, Spazzacamini und andere Formen der Fremdplatzierung und Kinderarbeit in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert' (Schweizerischer Nationalfonds) wurden in den letzten vier Jahren zahlreiche Gespräche mit ehemaligen Verdingkindern geführt. Der Erinnerungszeitraum erstreckt sich von ca. 1900 bis 1970. Die Gespräche widerspiegeln beinahe ein Jahrhundert schweizerische Sozialgeschichte aus der Perspektive einer mehrheitlich armen Gesellschaftsschicht. Die Kurzporträts illustrieren auch die ärmlichen Lebensbedingungen, in denen viele Schweizerinnen und Schweizer noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein lebten. Inhalt des Buches sind 40 Lebensausschnitte von ehemaligen Verdingkindern. Sie werden ergänzt durch Texte zu den Themenblöcken: Historische Erinnerungsforschung, Armut, Gesetzliche Entwicklung, Fremdplatzierung und ihre Gründe, Schule, Widerstand - Flucht - Glück, Entwurzelung - Isolation - Schweigen, Diskriminierung, Gewalt und ihre Folgen. Ergänzt wird der Band mit zahlreichen Fotos von Paul Senn (1901-1953), dessen Bilder von Benachteiligten und Randständigen - auch Verdingkindern - längst zur Legende geworden sind. Auf dem Umschlag: Verdingmädchen, Kanton Bern, 1940.

Marco Leuenberger, geb. 1959, Historiker, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Soziologischen Institut der Universität Basel und Mitarbeiter des Bundesamtes für Migration. Loretta Seglias, geb. 1975, Historikerin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Soziologischen Institut der Universität Basel, Autorin von Die Schwabengänger aus Graubünden (2004). ÿAutorinnen und Autoren Sabine Bitter, Historikerin, Journalistin beim Schweizer Radio DRS 2, Basel. Mirjam Häsler, Historikerin, Basel. Heiko Haumann, Professor für Osteuropäische Geschichte, Universität Basel. Ueli Mäder, Professor für Soziologie, Universität Basel. Liselotte Lüscher, Erziehungswissenschaftlerin, Bern. Katharina Moser Lustenberger, Historikerin und Primarlehrerin, Bern.

Armut und Kinderarbeit in der Schweiz


Marco Leuenberger


Zeiten der Not

Das Verdingkinderwesen in der Schweiz ist eng mit dem Begriff der Armut verknüpft. Im Kontext der Zeit ist damit die ungenügende Versorgung mit lebenswichtigen Gütern wie Essen, Obdach oder Kleidung zu verstehen, im Gegensatz zur neuen Armut, worunter Mangel an Lebensqualität verstanden wird.

Tatsächlich führten viele Menschen in der Schweiz auch im 20. Jahrhundert ein sehr kärgliches und entbehrungsreiches Leben. Die Furcht vor elementarem Mangel prägte das Lebensgefühl weiter Bevölkerungskreise in der Stadt und auf dem Land.1 Während des Ersten Weltkrieges und speziell in den beiden letzten Kriegsjahren 1917/18 führten durch Militärdienst bedingte Erwerbsausfälle sowie Teuerung und Inflation zu großer Not. So mussten im Juni 1918 über fünfzehn Prozent der Schweizer Bevölkerung behördlich unterstützt werden.2 Der Strukturwandel in der Landwirtschaft, die großen Wirtschaftskrisen der Zwischenkriegszeit (1921/22 und 1932 bis 1939) sowie der Zweite Weltkrieg ließen in breiten Kreisen der Bevölkerung Not und Armut anwachsen.

Ärmere Handwerker-, Arbeiter- und Bauernfamilien lebten in bescheidenen Verhältnissen. Elektrizität oder fließendes Wasser wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erst nach und nach installiert. Der Wohnraum war bei den oft vielköpfigen Familien knapp, und nicht selten schliefen die Kinder zu zweit oder zu dritt im selben Bett in ungeheizten Zimmern. Die Möglichkeiten bezüglich Ernährung, Bildung oder Hygiene waren eingeschränkt. Kinder armer Eltern blieben häufig von bestimmten sozialen Aktivitäten ausgeschlossen und konnten kaum am öffentlichen Leben teilnehmen. Die Verarmung war bisweilen derart gravierend, dass selbst die Grundbedürfnisse knapp befriedigt werden konnten.3 Tausende bewegten sich an der Grenze des Existenzminimums oder sogar darunter. So erstaunt es nicht, dass es Lebensberichte von Zeitzeugen gibt, die in den Krisenjahren der 1920er- und 1930er-Jahre von ihren Eltern zum Betteln ausgeschickt wurden oder wie Ernst Wessner, Werner Bieri und Armin Stutz zuhause Hunger litten.

Gelegenheiten, um Rücklagen für Notzeiten zu machen, gab es angesichts der knappen Ressourcen selten. Eine Krankheit, ein Unfall oder ein anderes unerwartetes finanziell belastendes Ereignis konnten das fragile ökonomische Gleichgewicht einer Familie schnell aus dem