Das Verdingkinderwesen in der Schweiz ist eng mit dem Begriff der Armut verknüpft. Im Kontext der Zeit ist damit die ungenügende Versorgung mit lebenswichtigen Gütern wie Essen, Obdach oder Kleidung zu verstehen, im Gegensatz zur neuen Armut, worunter Mangel an Lebensqualität verstanden wird.
Tatsächlich führten viele Menschen in der Schweiz auch im 20. Jahrhundert ein sehr kärgliches und entbehrungsreiches Leben. Die Furcht vor elementarem Mangel prägte das Lebensgefühl weiter Bevölkerungskreise in der Stadt und auf dem Land.1 Während des Ersten Weltkrieges und speziell in den beiden letzten Kriegsjahren 1917/18 führten durch Militärdienst bedingte Erwerbsausfälle sowie Teuerung und Inflation zu großer Not. So mussten im Juni 1918 über fünfzehn Prozent der Schweizer Bevölkerung behördlich unterstützt werden.2 Der Strukturwandel in der Landwirtschaft, die großen Wirtschaftskrisen der Zwischenkriegszeit (1921/22 und 1932 bis 1939) sowie der Zweite Weltkrieg ließen in breiten Kreisen der Bevölkerung Not und Armut anwachsen.
Ärmere Handwerker-, Arbeiter- und Bauernfamilien lebten in bescheidenen Verhältnissen. Elektrizität oder fließendes Wasser wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erst nach und nach installiert. Der Wohnraum war bei den oft vielköpfigen Familien knapp, und nicht selten schliefen die Kinder zu zweit oder zu dritt im selben Bett in ungeheizten Zimmern. Die Möglichkeiten bezüglich Ernährung, Bildung oder Hygiene waren eingeschränkt. Kinder armer Eltern blieben häufig von bestimmten sozialen Aktivitäten ausgeschlossen und konnten kaum am öffentlichen Leben teilnehmen. Die Verarmung war bisweilen derart gravierend, dass selbst die Grundbedürfnisse knapp befriedigt werden konnten.3 Tausende bewegten sich an der Grenze des Existenzminimums oder sogar darunter. So erstaunt es nicht, dass es Lebensberichte von Zeitzeugen gibt, die in den Krisenjahren der 1920er- und 1930er-Jahre von ihren Eltern zum Betteln ausgeschickt wurden oder wie Ernst Wessner, Werner Bieri und Armin Stutz zuhause Hunger litten.
Gelegenheiten, um Rücklagen für Notzeiten zu machen, gab es angesichts der knappen Ressourcen selten. Eine Krankheit, ein Unfall oder ein anderes unerwartetes finanziell belastendes Ereignis konnten das fragile ökonomische Gleichgewicht einer Familie schnell aus dem