: Peter Stamm
: In einer dunkelblauen Stunde Roman | »Von großer komischer Leichtigkeit.« Neue Zürcher Zeitung
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104915401
: 1
: CHF 18.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»In einer dunkelblauen Stunde« - Das neue Buch von Peter Stamm: Ein Roman über einen Schriftsteller und die Geheimnisse seines Lebens Seit Tagen wartet die Dokumentarfilmerin Andrea mit ihrem Team auf Richard Wechsler in seinem Heimatort in der Schweiz. Bei ersten Aufnahmen in Paris hatte der bekannte Schriftsteller wenig von sich preisgeben wollen und nun droht der ganze Film zu scheitern. In den kleinen Straßen und Gassen des Ortes sucht Andrea entgegen der Absprache nach Spuren von Wechslers Leben. Doch erst als sie wieder seine Bücher liest, entdeckt sie einen Hinweis auf eine Jugendliebe, die noch immer in dem kleinen Ort leben könnte. Eine Jugendliebe, die sein ganzes Leben beeinflusst hat und von der nie jemand wusste.

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane »Weit über das Land«, »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt«, »Das Archiv der Gefühle« und zuletzt »In einer dunkelblauen Stunde« sowie die Erzählung »Marcia aus Vermont«. Unter dem Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« erschienen 2014 seine Bamberger Poetikvorlesungen sowie 2024 die Züricher Poetikvorlesungen »Eine Fantasie der Zeit«. »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.Literaturpreise:Rheingau Literatur Preis 2000Bodensee-Literaturpreis 2012Friedrich-Hölderlin-Preis 2014Cotta Literaturpreis 2017ZKB-Schillerpreis 2017Solothurner Literaturpreis 2018Schweizer Buchpreis 2018

I


Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir bleibt, sagt Wechsler, aber wer weiß das schon? Es gab Momente, in denen mir das Ende näher schien als jetzt.

Er steht am Ufer der Seine, der Himmel ist bedeckt, ein paar Tauben fliegen vorüber. Wechsler macht eine unbestimmte Handbewegung, als wolle er den Gedanken verscheuchen. Im Hintergrund ist ein Touristenschiff zu sehen, das mit überraschend hoher Geschwindigkeit vorüberfährt. Wechsler dreht sich von der Kamera weg, schaut auf den Fluss, zuckt mit den Schultern.

Damit könnten wir doch anfangen.

Das war, nachdem er uns von jenem Unfall in den Bergen erzählt hat, nicht wahr?, sagt Tom. Er sitzt auf dem Bett und liest etwas.

Was liest du da? Es war kein Unfall. Nur beinah.

Für Wechsler war das ein Schlüsselmoment.

Sollen wir mit ihm in die Berge fahren und filmen, wie er da herumstolpert und sich erinnert? Wenn er überhaupt kommt. Die Geschichte haben wir doch schon. Thomas.

Seit kurzem will er, dass ich ihn Thomas nenne. Warum will jemand, der vierzig Jahre lang Tom gewesen ist, plötzlich Thomas sein? Ich springe zurück.

Es wäre schön, wenn wir die Aufnahme in den Bergen machen könnten, sagt Tom. Berge sind immer schön. Paris, das Dorf, die Berge.

Vermutlich wird die Geschichte mit jedem Mal erzählen etwas dramatischer. Was liest du da?

Den Hotelprospekt. Eine kleine Entdeckungsreise durch unser Hotel, umgeben von einer abwechslungsreichen Landschaft in einem verträumten Weinbauerndorf. Eine hochstehende Gastronomielandschaft, die für jeden Gaumen etwas Passendes bereithält. Bei uns lassen sich Arbeit und Vergnügen bestens verbinden. Nichtraucherzimmer, freier Internetzugang, ein Eldorado für jeden Geschäftsmann.

Und für die Geschäftsfrau?

Da ist es. Ich schalte auf normale Geschwindigkeit.

… hatte mich im Weg geirrt, sagt Wechsler, aber statt zurückzugehen … ich habe es immer gehasst, Wege zurückzugehen. Das Gelände wurde steiler und steiler, alles rutschte, es kam mir vor, als sei die ganze Welt in Bewegung, nichts mehr fest. Und dann waren da plötzlich Felsen. Da habe ich gedacht, jetzt … dass ich sterblich bin, wurde mir da erst so richtig … habe ich da erst begriffen.

Er hat die unangenehme Angewohnheit, Sätze nicht zu Ende zu sprechen. Man weiß zwar, was er meint, aber er sagt es nicht. Wir können keinen Film aus lauter angefangenen Sätzen machen.

Ich drücke auf schnellen Vorlauf.

… wer weiß das schon, sagt Wechsler. Es gab Momente, in denen mir das Ende näher schien als jetzt.

Wir könnten das auch ganz an den Schluss nehmen, sagt Tom. Quasi als Ausblick. Der Film ist zu Ende, aber das Leben geht weiter. Und dann verschwindet er in den Sonnenuntergang, da an dem kleinen See. So endet doch eines seiner Bücher.

Das war am Meer, sage ich. Ich möchte mein eigenes Zimmer.

Ich gehe spazieren, sagt Tom. Thomas.

Thomas? Ich muss grinsen, wenn ich ihn so nenne.

Andrea?, sagt er und hebt die Augenbrauen. Er bewegt sich mit einem Ächzen vom Bett herunter und zieht die Schuhe an.

Warum haben deine Schuhe keine Schnürsenkel? Und warum fällt mir das jetzt erst auf?

Die kommen aus Japan.

Und Japaner können keine Schuhe binden? Ach was! Ich müsste auch mal an die frische Luft. Ich drehe hier noch durch.

 

Tom ist den ganzen Nachmittag nicht zurückgekommen. Ich hätte auch Lust gehabt spazieren zu gehen, aber wir sind nicht zum Vergnügen hier, wir haben nur so und so viele Drehtage. Schon in Paris haben wir das Budget arg strapaziert, die Hotelzimmer, das Essen. Auch wenn wir im Moment nicht viel machen können, wenigstens da sein sollten wir, Präsenz markieren. Das ist so ein Wechsler-Wort: Präsenz. Heute sollte er kommen, ich bin zum Bahnhof gegangen, um ihn abzuholen, aber er war nicht im verabredeten Zug. Vielleicht hat er sich um einen Tag vertan.

Ruf ihn doch an, hat Tom gesagt.

Er hat kein Handy.

Natürlich hat er ein Handy, ich habe es selbst gesehen.

Jedenfalls hat er uns seine Nummer nicht gegeben. Ich