: Arne Burchartz
: Nina Heinrichs, Rita Rosner, Günter H. Seidler, Carsten Spitzer, Rolf-Dieter Stieglitz, Bernhard Strauß
: Psychodynamische Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter
: Kohlhammer Verlag
: 9783170326477
: 1
: CHF 21.00
:
: Medizin
: German
: 226
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Psychoanalyse geht von einem dynamischen Unbewussten aus. Dieses steht im Zentrum der Psychodynamischen Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter. Unter ihrem Dach haben sich zwei therapeutische Verfahren entwickelt: die Analytische Psychotherapie und die Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie. Das Buch gibt einen grundlegenden Überblick über das Thema, die Geschichte, theoretische und behandlungstechnische Konzepte, den Stand der wissenschaftlichen Forschung und einen Einblick in die therapeutische Praxis. Damit vermittelt es fundierte Kenntnisse der Verfahren und bietet darüber hinaus berufs- und ausbildungspraktische Informationen

Arne Burchartz, Dipl.-Päd., ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut mit eigener Praxis. Er ist als Dozent und Supervisor an den Psychoanalytischen Instituten Stuttgart und Würzburg sowie als KBV-Gutachter tätig. Mit einem Beitrag von Eberhard Windaus.

3          Verwandtschaft mit anderen Verfahren


 

 

Von der Psychoanalyse wurden mehrere bedeutsame psychotherapeutische Verfahren befruchtet, teils unter Beibehaltung einiger Grundlagen, teils in Widerspruch zu ihnen, teils unter heftiger Abgrenzung. Hier werden solche angeführt, die für die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie relevant sind.

3.1       Jakob Moreno und das Psychodrama


Jakob L. Moreno (1890 1974) gilt als einer der Begründer der Gruppenpsychotherapie. Bereits während seines Medizinstudiums in Wien experimentierte er ab 1910 mit dem Stegreiftheater mit Kindern. Auf dieser Grundlage entwickelte er eine soziale und therapeutische Gruppenarbeit. Er war Mitherausgeber der Jahresschrift »Der Daimon« u. a. zusammen mit Alfred Adler. 1925 emigrierte er in die USA. Seine soziometrischen Studien gewannen einen starken Einfluss auf die Soziologie. In einem Privat-Sanatorium in Beacon setzte er das Psychodrama-Theater als therapeutische Methode ein, es entstanden Moreno-Institute in New York und Beacon. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Gruppenpsychotherapie, Soziometrie und zum Psychodrama folgten.

Kurt Lewin, Fritz Perls, Eric Berne wurden wesentlich durch die Ideen des Psychodramas beeinflusst. Das Psychodrama fand Verbreitung in Hospitälern, Universitäten, Schulen, sozialer Arbeit, Kliniken, Rehabilitationszentren und wurde weltweit bekannt und angewandt durch Übersetzungen und Institutsgründungen, u. a. in Frankreich und Deutschland. 1970 Gründung der Sektion Psychodrama im DAGG, 1973 Gründung des Moreno-Instituts in Deutschland.

3.1.1     Grundlagen des Psychodramas


»Psychodrama kann als diejenige Methode bezeichnet werden, welche die Wahrheit der Seele durch Handeln ergründet« (Moreno 1959/1988, S. 77). Moreno ging ähnlich wie Freud und die Psychoanalyse davon aus, dass wesentliche Bereiche der menschlichen Entwicklung vorsprachlich sind. Den Anfang bildet die Handlung (wobei auch die innere Aktivität für Moreno »Handeln« bedeutet).

Nach Moreno erfährt sich der Mensch als Teil einer Gruppe, sie ist die soziale Heimat des Menschen, die zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, der Menschheit steht und Individuell-Psychisches mit Kollektiv-Sozialem verbindet. » Gruppe bedeutete für uns Zusammensein. Sie war mehr als nur eine Anzahl Individuen; sie hat eine Struktur« (Moreno 1988 [1959], S. 54). Unbewusste Zustände innerhalb dieser Gruppe ergeben sich aus der Verbindung des Unbewussten zwischen den Mitgliedern diese Verbindung aber setzt eine Begegnung voraus. Sie ist angelehnt an Martin Buber ein zentraler Begriff im Psychodrama: Sie bedeutet gegenseitige Empathie: »Zwei-Fühlung«. Für den einfühlenden Zusammenhang mehrerer Menschen in einer Gruppe fand Moreno den Begriff »Tele«: die möglichst verzerrungsfreie gegenseitige Wahrnehmung.

Dies führte zu einem erweiterten Begriff des Unbewussten: »Wir müssen eine Hypothese konstruieren, welche ein gemeinsames Unbewußtes postuliert. Diese Hypothese muß es verständlich machen, daß es unbewußte Zustände gibt, die nicht voneiner Psyche stammen, sondern vonmehreren, diemiteinander konkret verbunden sind« (Moreno 1988 [1959], S. 50).

3.1.2     Psychotherapeutisches Vorgehen


Im Psychodrama werden die psychischen Konflikte eines Gruppenmitglieds (»Protagonist«) spielerisch inszeniert. Dazu wählt er sich Mitspieler, »Antagonisten«, die bestimmte Persönlichkeitsanteile, Beziehungspartner aus seinem früheren oder aktuellen Umfeld, Traumelemente usw. als »Rollen« übernehmen. Es entsteht eine Aktion, in welcher der Protagonist »seine« Szene unmittelbar erlebt, die Antagonisten ein komplementäres oder konkordantes Erleben haben. Bestimmte Interventionstechniken verhelfen zu einer genauen Erforschung der mit der Szene verbundenen Intentionen, Affekte usw.: Rollentausch, »Doppeln«, Spiegeln, Einnahme einer dritten Position. Anschließend wird das Erlebte in einem strukturierten Gruppengespräch reflektiert.

In ähnlicher Weise können auch gemeinsame Themen der Gruppe oder momentane Dynamiken in der Gruppe spielerisch inszeniert und durchgearbeitet werden.

Ziele des Verfahrens sind:

  die Ursachen der Konflikte der Gruppenmitglieder zu erhellen

  Problemlösungen zu finden

  Krankhafte psychische Symptome zu beheben

  Kathartische Prozesse: »Jedes wahre zweite Mal ist die Befreiung vom ersten« (Moreno 1988 [1959], S. 89)

  Verhaltensvariabilität zu erweitern

  die schöpferische Gestaltungskraft (Kreativität), die persönliche Autonomie und die Soziabilität zu steigern

Generell zielt das Psychodrama auf einen Zugang zu Spontanität und Kreativität, um einer besseren (gemeinsamen) Lebensbewältigung willen.

3.1.3     Psychoanalyse und Psychodrama


Die Hauptkritik Morenos an der Psychoanalyse bestand darin, dass diese im therapeutischen Prozess die Aktion ausschließe und so zu einer »Verbannung des Lebens aus dem Sprechzimmer« führe (zit. nach Leutz 1986, S. 3). Meines Erachtens beruht diese Kritik auf einem Missverständnis, denn »das Leben« spielt sich in der Psychoanalyse in der Beziehung zwischen Analytiker und Analysand auf einer »inneren Bühne« ab im Gegensatz zur »äußeren Bühne« des Psychodramas. Spätestens seit Lorenzer (1973) und Klüwer (1983) lässt sich der psychoanalytische Prozess als Szene begreifen. Beides mal geht es um die Erkundung der Seelenlandschaft, die sich auch in der Psychoanalyse nicht unabhängig von Beziehungen begreifen lässt. Durch die Betonung der Spontanität und Kreativität als basale Intentionalität des Menschen zeigt das Psychodrama weit eher auf, woran es der Psychoanalyse mangelt zumindest soweit sie der Gefahr erliegt, in rigiden Vorgehensweisen zu erstarren. In der analytischen Haltung und Technik v. a. durch die Behandlung struktureller Störungen hat sich viel verändert hier ist Morenos Weitsicht anzuerkennen.

Parallelen zeigen sich darin, dass auch Moreno von einem Unbewussten ausgeht, in der Betonung der Empathie als Agens von Veränderungsprozessen und in der Einführung der spielerischen Handlung in die Therapie. Verblüffend ähnlich ist die Betonung der Katharsis der (frühen) kathartischen Methode von Breuer und Freud. Auch in der Erkenntnis, dass sich wesentliche seelische Vorgänge im Handeln ausdrücken, stehen sich Moreno und Freud (»Wiederholungszwang«) sehr nahe. Eine weitere Parallele besteht darin, dass die Aktion nur dann eine transformierende Kraft entfaltet, wenn sie in einen bewussten verbalen reflektierenden Prozess eingebettet ist. Mutatis mutandis lässt sich feststellen, dass sich hier die »Deutung« in einem strukturierten Gruppenprozess ereignet und somit die »Einbahnstraße« gesättigter Deutungen hinter sich lässt.

Vor diesem Hintergrund ist verständlich, warum sich das Psychodrama insbesondere in der Gruppenpsychotherapie von Kindern und Jugendlichen bewährt hat (Kende 2017). Bahnbrechende Arbeiten haben im deutschsprachigen Raum dazu Alfons Aichinger und Walter Holl vorgelegt (1997, 2002). Die spielerische Inszenierung, Rollenspiele, das »Handeln« sind Grundmerkmale auch in psychodynamischen Einzelpsychotherapien mit Kindern. Insofern lassen sich psychodramatische Elemente gut integrieren.

Dies hat auch Serge Lebovici (1915 2000, französischer Psychoanalytiker) erkannt. Er plädiert dafür, das Psychodrama in die analytischen Kinderbehandlungen einzubeziehen. Zusammen mit René Diatkine und Evelyne Kestemberg rief er das »psychodrame analytique individuel« ins Leben. (Lebovici et al. 1952, 1970). Darüber hinaus gab und gibt es vielfache Ansätze, Psychoanalyse und Psychodrama zu verbinden (Garfield 2003).

3.2       Virginia Axline: Nicht-direktive Spieltherapie


In Anlehnung an die klientenzentrierte Psychotherapie nach Carl Rogers (»Gesprächspsychotherapie«) entwickelte Virginia Axline (1911 1988, amerikanische Psychotherapeutin) die »nicht-direktive Spieltherapie«.

Das Verfahren ähnelt zunächst sehr der psychodynamischen Kindertherapie. Das Kind bekommt die Möglichkeit, in einem Raum,...