1. KAPITEL
Jodi Petrovelli stand am Fenster der Jugendherberge und sah hinaus auf die Gärten, in denen Tempelbäume und Palmen im Überfluss wuchsen. Das Kreischen der Vögel vermischte sich mit dem Lärm der geschäftigen Straßen Indiens, auf denen Verkäufer lauthals ihre stark gewürzten Speisen anboten, die Jodi in den Wochen, seit sie auf Jalpura war, lieben gelernt hatte.
Einen Moment dachte sie an die Wendungen des Schicksals, durch die sie auf dieser saftgrünen indischen Insel gelandet war, die von Königshaus und Parlament regiert wurde. Aus einer Laune heraus hatte sie beschlossen hierherzukommen, nachdem ihr Bruder ihr erzählt hatte, wie schön die Insel sei. Luca besaß eine bekannte Schokoladenmanufaktur und hatte kürzlich eine Kakaobohne entdeckt, die auf Jalpura wuchs. Also hatte Jodi, die auf Reisen gewesen war, entschieden, dass Jalpura einen Besuch wert war.
Wie aufs Stichwort meldete ihr Handy den Eingang einer Nachricht von Luca.
Wollte nur fragen, wie es geht. Ich hoffe, es ist alles in Ordnung und mit dem neuen Job läuft es gut.
Luca
Nun meldete sich ihr schlechtes Gewissen ebenso laut wie ihr Handy gerade. Immerhin war sie davongelaufen, sodass sich ihr Bruder dem Desaster nach dem Tod ihres Vaters allein hatte stellen müssen. Nicht dass sie James Casseveti wirklich als ihren Vater betrachtet hätte. Er war gegangen, als Luca fünf und sie noch nicht einmal geboren gewesen war.
In ihr stieg die vertraute Trostlosigkeit auf, die tief in ihr verankert war. Immer war da die Angst, dass sie, Jodi, ihn vertrieben hatte. Denn wäre Therese nicht mit ihr schwanger gewesen, wäre James vielleicht bei Frau und Sohn geblieben, statt sich aus dem Staub zu machen.
Jodi befürchtete, dass sie der Auslöser gewesen war, der ihn dazu gebracht hatte, die Familie zu verlassen, um nie wieder zurückzukommen – nicht mal für einen einzigen Besuch, sodass Jodi ihren Vater nie kennengelernt hatte. Nie hatte sie ihren Namen aus seinem Mund gehört, nie seine Hand gehalten oder auf seinen Schultern gesessen.
Sein Pech, sagte sie sich immer wieder, auch wenn sie wusste, dass es nicht so war. Schließlich hatte James danach ein glanzvolles, erfolgreiches Leben geführt. Er hatte die Frau geheiratet, wegen der er seine Familie verlassen hatte, die reiche Aristokratin Lady Karen Hales. Er hatte ihr Geld und ihre Verbindungen genutzt, ein global erfolgreiches Unternehmen für Süßspeisen mit dem Namen „Dolci“ aufgebaut und ein erfülltes, glückliches Leben in Reichtum geführt. Mit seiner neuen Familie, mit seiner neuen Frau Karen und seiner Tochter.
Ava Casseveti – allein der Name genügte, um die vertraute Wut und Eifersucht in ihr aufsteigen zu lassen.
Stopp. Jodi wusste, wie dumm und destruktiv es war, sich mit der Halbschwester zu vergleichen, die sie nie kennengelernt hatte. Es war nicht Avas S