1. Kapitel
Der Regen fiel in Strömen, gepeitscht von seitlichen Böen. Es regnete schon den ganzen Tag, was typisch für den Oktober war. Die Scheibenwischer glitten über die Frontscheibe hin und her. Die Sirene heulte. Im Inneren des Wagens klang sie seltsam gedämpft, so dass sich Dr. Vivien Kramer dabei ertappte, wie sie sich nach einem Streifenwagen umsah, obwohl das Geräusch seinen Ursprung direkt über ihr hatte, auf dem Dach des Streifenwagens, in dem sie saß. Besonnen fasste sie ihre langen, rotblonden Locken im Nacken zusammen und fixierte sie mit einer Klammer. Da tauchte vor ihr im Dunkeln die Silhouette der großen Brücke auf. Der Verkehr staute sich vor der Auffahrt zur Brücke, obwohl einige Beamte bemüht waren ihn umzuleiten. Der uniformierte Polizist neben ihr fuhr unbeeindruckt weiter und überholte die stehenden Fahrzeuge auf dem Randstreifen, bis sie die Straßensperre erreichten. Blaulichter blitzten stumm. Die Scheinwerfer der wartenden Autos tauchten alles in ein unwirkliches Licht. Der Regen prasselte nur so auf den asphaltierten Boden herab.
Noch ehe sie aus dem Wagen springen konnte schrie ihr ein weiterer Uniformierter durch den Regen etwas entgegen.
„Dr. Kramer? Kommen Sie bitte schnell“, rief er, während er die Tür des Streifenwagens aufriss.
Eine Böe wehte ihr sofort den Regen seitlich ins Gesicht. Was für ein entsetzliches Wetter um sich das Leben zu nehmen. Die Tür des Wagens knallte hinter ihr zu, und die Absätze ihrer Stiefeletten patschten über den nassen Asphalt, während sie eilig in Richtung der Lichter liefen.
„Wo ist er?“ rief sie durch den Regen und folgte mit ihrem Blick dem Arm des Polizisten, der voraus deutete.
„Gleich da vorne.“
Der Regen fiel so dicht, dass sie den Rand der Brücke kaum erkennen konnte. Undeutlich sah sie eine Gestalt dort stehen.
„Hat schon jemand mit ihm gesprochen?“
Es war Zufall, dass man sie zu Rate gezogen hatte. Sie war keine Polizeipsychologin, doch seit sich vor ein paar Monaten einer ihrer Patienten als Serienkiller, der Blutegel, entpuppt hatte, war sie bei der Polizei als praktizierende Psychologin bekannt. Es war ein Notfall eingetreten, der Polizeipsychologe war nicht erreichbar und jemand war verzweifelt genug, um sich an sie zu erinnern. Vivien war schon dabei ihre Praxis zum Feierabend zu schließen, als der Anruf kam. Ihre Hilfe wurde gebraucht, und Vivien hatte keine Sekunde gezögert.
„Nein“, kam die schnelle Antwort des Polizisten.
„Wie lange steht er dort schon?“ fragte sie und blickte sorgenvoll in die Richtung des Suizidalen.
Vivien wusste, dass es vielfältige Aspekte zu berücksichtigen galt, denn letztlich war jede Suizidtat ein individuelles Phänomen, das sich nicht immer