Es war ein verrücktes Wetter. Warme Frühlingslüfte und Sonnenschein statt Schnee und Kälte Anfang Februar. In den Straßencafés waren alle Tische besetzt, und junge Leute in leichter Kleidung sonnten sich in den Grünanlagen auf den Parkbänken. Weil die Sonne so warm schien, wollte auch niemand daran denken, daß es ein gefährliches Wetter war. Der Föhn machte müde, verursachte Kopfschmerzen und bei manchen sogar Übelkeit.
Das spürten dann vor allem die Ärzte.
Auch bei Dr. Norden herrschte Hochbetrieb. Geduldig hörte er sich jetzt die Klagen von Frau Stangel an, die an chronischen Hüft- und Knieschmerzen litt und bei dem Hoch und Tief des Wetters in diesem Winter, der kein richtiger Winter war, keine Nacht mehr schlafen konnte.
»Ich verstehe nicht, daß es nachts noch schlimmer ist als am Tag«, jammerte sie. »Ich kann mich kaum noch umdrehen, und bis ich aus dem Bett herauskomme, kriege ich noch zusätzlich Herzbeschwerden von der Anstrengung. Wie soll das denn nur weitergehen, Herr Doktor? Mit sechzig Jahren kriege ich doch noch keinen Platz in einem Pflegeheim. Sie haben mich gleich schief angeguckt, als ich mich mal erkundigt habe, so, als wäre ich nicht mehr richtig im Kopf.«
»Ich werde mich mal bemühen, daß Sie wenigstens eine Kur bekommen, Frau Stangel, und wie wäre es denn, wenn Sie mal mit Ihrem Sohn sprechen würden? Er lebt doch auf dem Land, da müßte es eine Möglichkeit geben, Sie in der Nähe unterzubringen.«
»Gott bewahre, dann gibt es bloß Krach mit meiner Schwiegertochter. Sie kümmert sich nicht mal um ihren Vater, der auch allein ist und Hilfe braucht. Nein, nein, ich habe mir geschworen, meinen Kindern nie zur Last zu fallen. Renate wohnt ja eh weit weg und hat genug zu tun mit ihrem kranken Mann. Er ist noch nicht mal vierzig, und ich sollte mich wirklich nicht so wichtig nehmen, wenn ich daran denke, was er schon durchmachen muß. Jetzt habe ich Ihnen wieder die Ohren vollgejammert, entschuldigen’s vielmals.«
»Ich weiß, daß Sie große Schmerzen haben, Frau Stangel. Sie bekommen jetzt eine Injektion und dann eine Mikrowellenbestrahlung. Wir müssen halt alles versuchen, was möglich ist, um die Schmerzen zu lindern, sonst sollten Sie doch mal eine Operation in Betracht ziehen.«
Dagegen sträubte sie sich, und zu einem anderen Arzt wollte sie schon gar nicht gehen. Eigensinnig war sie auch.
Wendy nahm sie jetzt unter ihre Fittiche und ging mit ihr in den Therapieraum. Dr. Norden konnte sich mit der nächsten Patientin befassen. Sie war jung und hübsch, vielleicht nicht im landläufigen Sinn, denn ein Dutzendgesicht hatte sie nicht.
Angela Raven war dreiundzwanzig Jahre jung, etwas mehr als mittelgroß und mit vielen Vorzügen ausgestattet, mit einer sehenswerten Figur und langen, wohlgeformten Beinen. Ihr Gesicht war ausdrucksvoll mit den großen schönen Augen und der zarten reinen Haut, daß auch Dr. Norden sie immer wieder anschauen mußte. Aber er sah auch, daß sie etwas bedrückte.
»Wo fehlt es denn, Geli?« fragte er. Sie gehörte auch zu denen, die er seit der frühen Jugendzeit betreute und Wert darauf legten, von ihm weiterhin geduzt zu werden.
»Es ist wegen Omi, sie wird immer vergeßlicher und kann sich auch nicht mehr selbst versorgen. Ich habe jetzt eine Tagesschwester engagiert, nachts bleibe ich dann bei ihr.«
»Sind deine Eltern nicht da?« fragte er.
»Sie sind mal wieder auf großer Tour, und ich kann sie auch nicht erreichen. Ich weiß nicht, wo sie diesmal nach Schätzen graben. Ich wäre jedenfalls sehr dankbar, wenn Sie mal nach Omi sehen würden.«
»Das werde ich selbstverständlich gleich nachher tun. Bist du um sechs Uhr zu Hause?«
»Bestimmt, ich muß jetzt nur noch etwas besorgen. Ich will auch versuchen, ein paar Tage Urlaub zu bekommen, aber jetzt sind schon so viele grippekrank.«
Wer konnte das besser wissen als Dr. Norden. Er machte sich Gedanken, daß zuviel auf Angelas schmalen Schultern lastete, während ihre Eltern weiterhin ihrer Abenteuerlust frönten. Sie waren beide Wissenschaftler, aber so ganz verstand Dr. Norden doch nicht, daß sie nicht auch an die Mutter und an ihre Tochter dachten, die schon oft allein gewesen waren.
Beschwert hatte sich Angela nie, aber Daniel Norden hatte schon den Eindruck gewonnen, daß der Kontakt zwischen Tochter und Eltern nicht so war, wie er seiner Ansicht nach sein sollte.
Angela war so, wie sich viele Eltern eine Tochter wünschten. Sie hatte nie Anlaß zu Ärger und Klagen gegeben, war eine ausgezeichnete Schülerin und Studentin und scheute sich nicht, in den Semesterferien zu arbeiten. Sie tat das schon seit drei Jahren in der Anzeigenredaktion eines Verlages und half dort auch in ihrer Freizeit aus, wenn sie gebraucht wurde. Man hätte sie dort gern fest angestellt, wenn sie nur gewollt hätte. Aber sie wollte eine creativere Position in den Medien anstreben, im Rundfunk oder Fernsehen, und sie hatte da auch schon Verbindung aufgenommen. Sie wurde in diesem Jahr fertig mit dem Studium hatte sie doch schon das Studium, mit neunzehn Jahren beginnen können. Sie war den anderen ihrer Altersgruppe immer voraus gewesen und deshalb auch nur bei wenigen beliebt. Demzufolge hatte sie auch nur wenige Freunde, dafür allerdings solche, auf die Verlaß war.
Sie fuhr in die Stadt, um sich mit Miriam Korten zu treffen, mit der sie sich zum Essen verabredet hatte. Sie wollte diese Verabredung nicht versäumen, weil Miriam ihr möglicherweise behilflich sein konnte, ihre Omi wenigstens vorübergehend in einem Pflegeheim unterzubringen, falls sich ihr Zustand nicht besserte. So sehr Angela die alte Dame auch liebte, sie fühlte sich der Doppelbelastung nicht mehr gewachsen. Das Studium litt darunter, und die letzten Examen standen vor der Tür. Außerdem brachte sie es auch nicht fertig, im Verlag alles hinzuwerfen. Dazu war sie viel zu charaktervoll und verläßlich. Sie kam mit Verspätung zu dem Restaurant im Westpark. Sie trafen sich dort gern, weil sie dann auch noch im Park spazieren gehen konnten.
»Ich habe schon gedacht, du hast mich vergessen«, wurde sie von Miriam Korten begrüßt. »Du siehst abgehetzt aus, Geli. Was ist los?«
»Frag mich nicht, es kommt mal wieder alles zusammen. Omi geht es wieder schlechter, ich konnte kaum schlafen die letzten Nächte. Ich wollte dich fragen, ob du nicht eine Beziehung hast, daß ich Omi wenigstens kurze Zeit in einem Pflegeheim unterbringen könnte.«
Miriam war im Gesundheitsministerium tätig und konnte sich am ehesten informieren. Sie sagte auch sofort, daß sie sich darum kümmern würde.
»Und deine Eltern, schwirren immer noch in der Weltgeschichte herum«, stellte Miriam anzüglich fest. »Ich finde das nicht sehr familienfreundlich.«
»Das waren sie doch nie«, sagte Angela mit einem Anflug von Bitterkeit.
»Hast du wenigstens Nachricht von Ole?«