: Stefan Zweig
: Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit
: EClassica
: 9783969179185
: 1
: CHF 1.20
:
: Romanhafte Biographien
: German
: 195
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit: Zwölf historische Miniaturen | Neu editiert, voll verlinkt und mit zahlreichen erklärenden Fußnoten | Der Titel Sternstunde ist von Stefan Zweigs Rezensenten gelegentlich missverstanden worden. Sie kritisierten, wie man auch das Scheitern eines Menschen, etwa Robert Scotts dramatisches Scheitern am Südpol, als Sternstunde bezeichnen könne. Doch Zweig verstand den Begriff als dramatisch geballten, schicksalsträchtigen Moment, in dem 'eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine Minute zusammengedrängt ist'. Oft sind es Schnittstellen, an denen das vermeintlich Private historisch, politisch, dauerhaft wird. Und ein einziger Mann mit einer kleinen Idee Geschichte macht oder geschichtlich scheitert. Scheitert wie Johann August Sutter, der Besitzer der Sutters Mill auf dessen Gelände Arbeiter Goldnuggets fanden, was den großen kalifornischen Goldrausch von 1848 auslöste. Oder sich unsterblich macht wie der junge Franzose Rouget de Lisle, der am 25. April 1792 die Marseillaise schrieb, die spätere französische Nationalhymne.

Stefan Zweig wurde am 18. November 1881 in Wien geboren und gehört zu den bedeutenden deutschsprachigen Schriftstellern der Zwischenkriegszeit. 1934 emigrierte er nach England und 1940 nach Brasilien, wo er, bedrückt durch die politischen Entwicklungen in Deutschland, 1942 Suizid beging. 'Seine Werke verbinden hohe moralische und ethische Ansprüche mit dem Bemühen um den Erhalt der alten geistigen Werte'. (Brockhaus Literatur)

Goethe zwischen Karlsbad und Weimar
5. September 1823


Am 5. September 1823 rollt ein Reisewagen langsam die Landstraße von Karlsbad gegen Eger zu: der Morgen schauert schon herbstlich kühl, scharfer Wind geht durch die abgeernteten Felder, aber blau spannt sich der Himmel über geweitete Landschaft. In der Kalesche sitzen drei Männer, der großherzoglich sachsen-weimarische Geheimrat v. Goethe (wie ihn die Kur-Liste Karlsbad rühmend verzeichnet) und die beiden Getreuen, Stadelmann, der alte Diener, und John, der Sekretär, dessen Hand fast alle Goethe-Werke des neuen Jahrhunderts zum ersten Mal geschrieben. Keiner von beiden spricht ein Wort, denn seit der Abfahrt von Karlsbad, wo junge Frauen und Mädchen mit Gruß und Kuss den Scheidenden umdrängten, hat sich die Lippe des alternden Mannes nicht mehr geregt. Unbewegt sitzt er im Wagen, nur der sinnende, in sich gefangene Blick deutet auf innere Bewegung. In der ersten Relaisstation steigt er aus, die beiden Gefährten sehen ihn hastig mit der Bleifeder Worte auf ein zufälliges Blatt schreiben, und das gleiche wiederholt sich auf dem ganzen Wege bis Weimar bei Fahrt und Rast. In Zwotau, kaum angekommen, im Schloss Hartenberg am nächsten Tag, in Eger und dann in Pößneck, überall ist es sein erstes, das im rollenden Gefährt Übersonnene in eilender Schrift zu vermerken. Und das Tagebuch verrät nur lakonisch: »An dem Gedicht redigiert« (6. September), »Sonntag das Gedicht fortgesetzt« (7. September), »das Gedicht abermals unterwegs durchgegangen« (12. September). In Weimar, am Ziel, ist auch das Werk vollendet; kein geringeres als die »Marienbader Elegie«, das bedeutendste, das persönlich intimste und darum von ihm auch geliebteste Gedicht seines Alters, sein heroischer Abschied und sein heldenhafter Neubeginn.

»Tagebuch innerer Zustände« hat Goethe einmal im Gespräch die Gedichte genannt, und vielleicht kein Blatt seines Lebenstagebuches liegt so offen, so klar in Ursprung und Entstehung vor uns wie dies tragisch fragende, tragisch klagende Dokument seines innersten Gefühls: kein lyrischer Erguss seiner Jünglingsjahre ist so unmittelbar aus Anlass und Geschehnis entsprungen, kein Werk können wir dermaßen Zug um Zug, Strophe um Strophe, Stunde um Stunde sich bilden sehen wie dies »wundersame Lied, das uns bereitet«, dieses tiefste, reifste, wahrhaft herbstlich erglühende Spätlings-Gedicht des Vierundsiebzigjährigen. »Produkt eines höchst leidenschaftlichen Zustandes«, wie er es Eckermann gegenüber nannte, vereint es gleichzeitig erhabenste Bändigung der Form: so wird offenbar und geheimnisvoll zugleich feurigster Lebensaugenblick in Gestaltung verwandelt. Noch heute, nach mehr als hundert Jahren, ist nichts welk und abgedunkelt an diesem herrlichen Blatt seines weitverzweigten rauschenden Lebens, und noch Jahrhunderte bewahrt sich dieser 5. September denkwürdig im Gedächtnis und Gefühl kommenden deutschen Geschlechts.

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Über diesem Blatt, diesem Gedicht, diesem Menschen, dieser Stunde steht strahlend der seltene Stern der Neugeburt. Im Februar 1822 hatte Goethe schwerste Krankheit zu überstehen, heftige Fieberschauer durchschütteln den Körper, zu manchen Stunden ist das Bewusstsein schon verloren, und er selbst scheint es nicht minder. Die Ärzte, die kein deutliches Symptom erkennen und nur die Gefahr spüren, sind ratlos. Aber plötzlich, wie sie gekommen, entschwindet die Krankheit: im Juni geht Goethe nach Marienbad, ein vollkommen Verwandelter, denn fast hat es den Anschein, als ob jener Anfall nur Symptom einer inneren Verjüngung, einer ›neuen Pubertät‹ gewesen wäre; der verschlossene, verhärtete, pedantische Mann, in dem das Dichterische fast ganz zur Gelehrsamkeit verkrustet war, gehorcht seit Jahrzehnten wieder nur noch ganz dem Gefühl. Musik »faltet ihn auseinander«, wie er sagt, kaum kann er Klavier spielen und besonders von einer so schönen Frau wie Szymanowska spielen hören, ohne dass seine Augen in Tränen stehen; er sucht aus tiefstem Triebe Jugend auf,