1. KAPITEL
Northumberland, England, Dezember 1816
Brennt meine Wunschkerze noch, Mama?“
Zärtlich küsste Ellie ihre kleine Tochter. „Ja, Liebling, sie ist noch nicht ausgegangen. Und jetzt hör auf, dir Sorgen zu machen, und schlaf. Die Kerze steht unten auf der Fensterbank, genau da, wo du sie aufgestellt hast.“
„Sie leuchtet hinaus ins Dunkle, damit Papa sie sieht und weiß, wo wir sind.“
Ellie zögerte. Mit rauer Stimme erwiderte sie: „Ja, mein Liebling. Papa wird wissen, dass wir hier sind, im Warmen.“
Amy kuschelte sich unter die fadenscheinigen Laken und die ausgeblichene Steppdecke. „Und morgen früh wird er mit uns frühstücken.“
Ellies Kehle war wie zugeschnürt. „Nein, Liebling. Papa wird nicht kommen. Dasweißt du doch.“
Amy runzelte die Stirn. „Aber morgen ist doch mein Geburtstag, und du hast gesagt, dass Papa dann kommt.“
Tränen verschleierten ihr die Augen, als Ellie ihrer Tochter mit der abgearbeiteten Hand sanft über die Wange strich. „Nein, Liebling, das war letztes Jahr. Und du weißt, warum Papa damals nicht gekommen ist.“
Langes Schweigen trat ein. „Weil ich letztes Jahr keine Kerze ins Fenster gestellt habe?“
Ellie war entsetzt. „O nein! Nein, mein Liebling, mit dir hatte das gar nichts zu tun, wirklich nicht!“ Sie schloss das kleine Mädchen in die Arme, drückte es fest an sich und strich ihm über die glänzenden Locken, bis sie sich so weit gefasst hatte, dass sie wieder sprechen konnte. „Liebling, dein Papa ist gestorben, deswegen ist er nicht nach Hause gekommen.“
„Weil er den Weg nicht gesehen hat, weil ich ihm keine Kerze hingestellt habe.“
Das Elend in der Stimme ihrer Tochter zerriss Ellie schier das Herz. „Nein, meine Süße. Mit der Kerze hatte das gar nichts zu tun. An Papas Tod war niemand schuld.“ Das stimmte nicht. Hartley war von eigener Hand gestorben, aber Spielsucht und Freitod waren hässliche Themen für ein kleines Kind.
„Und jetzt hör auf damit“, meinte Ellie so entschieden, wie sie konnte. „Morgen ist dein Geburtstag, dann bist du vier Jahre alt, ein großes Mädchen. Und weißt du was? Weil du so ein braves Mädchen warst und Mama so schön geholfen hast, habe ich morgen früh eine wunderbare Überraschung für dich. Aber nur, wenn du jetzt gleich einschläfst.“
„Eine Überraschung? Was für eine Überraschung denn?“, erkundigte sich Amy eifrig.
„Wenn ich es dir sage, wäre es doch keine Überraschung mehr. Und jetzt schlaf ein.“ Sie begann ein Wiegenlied zu summen, um ihre Tochter zu beruhigen.
„Ich weiß, was die Überraschung ist“, murmelte ihre Tochter schläfrig. „Papa kommt zum Frühstück.“
Ellie seufzte. „Nein, Amy, Papa ist seit über einem Jahr tot. Das weißt du doch, warum beharrst du so darauf?“
„Es ist eine besondere Kerze, Mama. Das hat die Dame gesagt. Eine Wunschkerze. Sie bringt uns Papa zurück, du wirst schon sehen.“ Sie lächelte und kuschelte sich tiefer in ihre Decken.
Ellie runzelte die Stirn. Ohne ihr Wissen hatte Amy ein halbes Dutzend Eier und etwas Milch bei einer Zigeunerin gegen eine dicke rote Kerze eingetauscht. Von wegen Wunschkerze! Wohl eher eine sündhaft teure Weihnachtskerze. Und auch schädlich, wenn die alte Frau Amy eingeredet hatte, sie könne ihr den Vater zurückbringen.
Die wenigen Erinnerungen, die Amy an ihren Vater hatte, waren idealisierte Märchen. Die Wahrheit war für ein kleines Mädchen einfach zu schmerzlich. Hart war nie ein aufmerksamer Vater oder Ehemann gewesen. Sir Hartley Carmichael hatte sich einen Sohn gewünscht – einen Erben. Das kleine, lebhafte Mädchen mit den dunklen Locken und den strahlend blauen Augen hatte ihn nicht interessiert, war für ihn nutzlos, wie er immer wieder betonte – manchmal sogar in Amys Beisein.
Ellie sah auf ihre schlafende Tochter, und ihr schwoll das Herz. Für sie gab es auf der Welt nichts Kostbareres als ihr Kind. Sie nahm den Kerzenleuchter und begab sich in ihr Zimmer, wo sie sich hastig auskleidete, in i