: Khaled Alesmael
: Selamlik
: Albino Verlag
: 9783863003067
: 1
: CHF 15.70
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Furat ist als eines von sechs Geschwistern in einer gutbürgerlichen Familie in Syrien aufgewachsen. Den Tod von Diktator Hafiz al-Assad erlebt er 2000 im Studentenwohnheim von Damaskus gemeinsam mit der ersten großen Liebe seines Lebens. Hartnäckig erkundet er die 'heimliche Revolution', das verborgene Leben homosexueller Männer in Damaskus, ihre Parks, Saunen und Pornokinos. Der Terror des Bürgerkriegs trifft die Schwulen gleich doppelt: Islamistische Rebellen machen gezielt Jagd auf 'die Leute von Lot', stürzen sie von Hochhäusern in den Tod. Als das Haus der Familie in die Schusslinie der Kampftruppen gerät, macht sich Furat auf den Weg nach Norden. Auf der Flucht und im schwedischen Asylantenheim begegnen ihm seine arabischen Landsleute weiterhin mit unverhohlener Homophobie. In seinem Zimmer mit Blick auf den Friedhof von Åseda beginnt Furat, die Geschichte seines Lebens aufzuschreiben.

Khaled Alesmael wurde als Sohn eines syrischen Vaters und einer türkischen Mutter in Deir ez-Zor, Syrien, geboren. Er studierte an der Universität Damaskus englische Literatur und arbeitete als Jour- nalist in verschiedenen Großstädten Europas und des Nahen Ostens; für die taz in Berlin schrieb er über syrische Flüchtlinge in Deutsch-land. Seine journalistische Arbeit wurde mit zahlreichen internatio- nalen Preisen ausgezeichnet. 2014 beantragte er Asyl in Schweden und lebt dort heute als schwedischer Staatsbürger. Sein Debütroman 'Selamlik' wurde 2018 in Schweden erstveröffentlicht; seine Erzählung 'En tygväska med damaskustryck' (Damaskus in einem Stoffbeutel) gewann den Hörbuchpreis des schwedischen Rundfunks 2020.

KAPITEL 1


IM ZIMMER
MEINER SCHWESTER


Aleppo, das Haus meiner Schwester. Ich stand mitten in ihrem Schlafzimmer, das in mildem Halbschatten lag. Die klapprigen Fensterläden waren geschlossen, um die Nachmittagshitze abzuwehren, doch sie hatte die Fenster geöffnet, und eine warme Brise wehte sanft herein. Der Wind blähte die durchsichtigen Vorhänge, bevor er meinen nackten Körper streifte. Nach der kalten Dusche glitzerte meine Haut, und mein Nacken war feucht von Schweiß. Ich zitterte beim Gedanken an das, was vielleicht bald geschehen würde. Das weiße Handtuch lag zwischen meinen Füßen auf dem feuchten Boden. Ich hob es auf und versuchte, meinen Körper noch einmal damit abzutrocknen; dabei ließ ich den Blick durch den vertrauten Raum schweifen. Das Doppelbett mit reich verziertem Kopfende war ordentlich gemacht und mit einem goldenen Dammasttuch bedeckt. Darüber hing ein großer Kristallleuchter. Auf dem Schminktisch standen zahllose kleine Parfumflakons und Cremetöpfchen; unter den vielen Lippenstiften, Feuchtigkeitscremes und anderen Accessoires meiner Schwester suchte ich nach der Pinzette. Erregt näherte ich mich dem großen Drehspiegel, der die Silhouette meiner Nacktheit reflektierte. Ein neunzehnjähriger Junge, glatt und jungfräulich.

Hinter mir auf dem Boden lag meine Sporttasche. Ich kniete mich hin und durchwühlte die Sachen auf der Suche nach den Unterhosen. Dann stellte ich mich wieder vor den Spiegel und streichelte meine bebenden Muskeln. Ich hob und senkte mehrmals den Unterarm, ging in die Kniebeuge und drückte die Finger in die Achselhöhle; das junge Fleisch dehnte sich elastisch. Ich beschloss, die blau-weiße Hose aus Trikotstoff anzuziehen, es war die schickste Unterhose, die ich damals besaß. Mein Cousin hatte sie mir zur Feier meines ersten Studienjahres an der Universität von Aleppo geschenkt. Dann zog ich mein weißes T-Shirt und kurze Jeans an. Ein Tropfen Wasser oder Schweiß fiel von meiner rechten Armbeuge und lief den Oberkörper hinunter, ich spürte ein leichtes Kitzeln.

Ich nahm die Tasche und meine Turnschuhe und ging langsam ins Wohnzimmer, wo es kühler war. Im Fernsehen lief eine Dokumentationssendung von National Geographic; in der Ecke des Bildschirms wurden Datum und Uhrzeit in digitalen Ziffern angezeigt, 10/06/2000 04:45 pm. Ich setzte mich aufs Sofa; von dort konnte ich meine Schwester in der Küche sehen. Sie bereitete die Lunchbox vor, die ich mit ins Studentenwohnheim nehmen sollte.

Meine Schwester Miriam ist die älteste von uns sechs Geschwistern und das einzige Mädchen. Sie ist fünfzehn Jahre älter als ich. In dem Jahr, in dem ich geboren wurde, zog sie von Deir ez-Zor nach Aleppo. Sie verließ unser Zuhause, um an der Universität von Aleppo Elektrotechnik zu studieren, und verliebte sich dort in einen Kollegen. Er war der älteste Sohn eines der bekanntesten und reichsten Pistazienhändler in Aleppo. Sie heirateten noch während des Studiums. Ich erinnere mich nicht an ihre Hochzeit, aber sie kostete ein Vermögen. Der berühmte syrische Sänger Sabah Fakhri sang auf der Hochzeitsfeier. Ich war ungefähr fünf Jahre alt. Meine Mutter sagte immer, durch Miriams Hochzeit wurde unser Haus einSelamlik*; das ist türkisch und bedeutet Palast der Männer, denn meine Mutter stammt aus der Türkei. Meine Schwester und ihr Mann machten ihre Examen und zogen in ein schickes Haus in der König-Faisal-Straße, wo sie ihre gerahmten Diplome an die Wand hängten. Ihr Mann arbeitet für seinen Vater, und meine Schwester wurde eine verwöhnte Ehefrau. Sie hat zwei Haushaltshilfen, doch das Essen für ihren Ehemann kocht sie selbst.

Plötzlich wurde die Fernsehsendung unterbrochen, und das bekannte Gesicht eines Geistlichen erschien auf dem Bildschirm. Sein rundes Gesicht mit den dicken Backen war jeden Freitagmorgen im Fernsehen zu sehen, ich kannte es, seit i