: Charlotte Brontë
: Jane Eyre. Eine Autobiografie Damals - heute - morgen: Reclams Klassikerinnen
: Reclam Verlag
: 9783159617015
: Reclam Taschenbuch
: 1
: CHF 9.60
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 734
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Charlotte Brontës Meisterwerk, das sie im Alter von knapp dreißig Jahren verfasste, zählt zu den großen Frauenromanen der Weltliteratur. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen die Gouvernante Jane Eyre und Edward Rochester, der Herr von Thornfield Hall. Edward, dessen uneheliche Tochter Adèle von Jane unterrichtet wird, verliebt sich in Jane, aber zur Hochzeit kommt es - vorerst - nicht. Schreckliche Dinge passieren in dem düsteren Herrenhaus, die Jane sich nicht erklären kann. Sie ahnt nicht, dass eine Irre darin haust ... - Mit einer kompakten Biographie der Autorin

Kapitel 1


An jenem Tag konnte man unmöglich spazieren gehen. Zwar waren wir am Vormittag eine Stunde lang zwischen den kahlen Büschen und Sträuchern umhergestreift, doch seit dem Mittagessen (wenn kein Besuch da war, speiste Mrs. Reed stetszeitig) hatte der kalte Winterwind so dunkle Wolken und einen so durchdringenden Regen mitgebracht, dass ein weiterer Aufenthalt im Freien nun nicht mehr in Frage kam.

Ich war froh darüber. Lange Spaziergänge, vor allem an frostigen Nachmittagen, hatte ich noch nie gemocht: die Heimkehr im unwirtlichen Halbdunkel mit erstarrten Fingern und Zehen, das fortwährende Geschimpfe von Bessie, dem Kindermädchen, das mir das Herz schwer machte, und das demütigende Bewusstsein meiner körperlichen Unterlegenheit gegenüber Eliza, John und Georgiana Reed waren mir ein Gräuel.

Besagte Eliza, John und Georgiana waren jetzt im Wohnzimmer um ihre Mama versammelt. Sie lag auf einem Sofa in der Nähe des Kamins und sah im Kreise ihrer Lieblinge (die im Augenblick gerade einmal weder stritten noch weinten) vollkommen glücklich aus. Mich hatte sie mit der Bemerkung von der Gruppe ausgeschlossen, es täte ihr leid, mich von ihnen fernhalten zu müssen; doch ehe sie nicht von Bessie höre oder mit eigenen Augen feststellen könne, dass ich mich ernsthaft um ein umgänglicheres und kindlicheres Betragen, eine einnehmendere und heiterere Art bemühte kurz, also versuchte, etwas fröhlicher, unbekümmerter, offener und natürlicher zu sein –, müsse sie mir nun einmal die Vergünstigungen versagen, die nur zufriedenen, braven kleinen Kindern zustünden.

»Was hat Bessie gesagt? Was soll ich denn getan haben?«, fragte ich.

»Jane, ich mag diese naseweise Krittelei und Fragerei nicht. Außerdem ist es wirklich erschreckend und abstoßend, wenn ein Kind einem Erwachsenen gegenüber einen solchen Ton anschlägt. Setz dich irgendwo hin und schweig, bis du imstande bist, dich freundlich und liebenswürdig zu unterhalten.«

Neben dem Salon lag ein kleines Frühstückszimmer. Dort schlüpfte ich hinein. In dem Raum befand sich ein Bücherschrank. Bald nahm ich mir einen Band heraus, wobei ich darauf achtete, dass es einer mit Bildern war. Ich kletterte auf die Bank in der Fensternische, zog meine Füße hoch und ließ mich im Schneidersitz darauf nieder, und nachdem ich den roten Moirévorhang fast ganz zugezogen hatte, fühlte ich mich in meinem Zufluchtsort doppelt geschützt.

Falten des scharlachroten Stoffes versperrten mir die Sicht nach rechts; zu meiner Linken schützten mich die blanken Fensterscheiben vor dem trostlosen Novembertag, ohne mich indes völlig von ihm zu trennen, und wenn ich die Seiten meines Buches umblätterte, vertiefte ich mich von Zeit zu Zeit in den Anblick, den jener Winternachmittag bot. Die Ferne verlor sich in einem fahlen Nichts aus Nebel und Wolken; unmittelbar vor mir lagen der nasse Rasen und das sturmgepeitschte Gebüsch, über das der Regen, von langen, aufheulenden Windstößen angetrieben