2
Caro konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal neun Stunden am Stück geschlafen hatte. Voller Energie stand sie in ihren Sportsachen am Treffpunkt vor der Kurklinik, von wo aus die Walkinggruppe starten wollte. Sie hatte Justus nach dem Frühstück zur Kinderbetreuung gebracht, die heute als Erstes den Strand erkunden wollte. Auch wenn er anfangs immer ein wenig schüchtern war, hatte Justus zum Glück schnell Anschluss gefunden. Er war neugierig und aufgeschlossen und hatte daher nie Probleme, neue Freunde zu finden, was Caro als Segen empfand.
»Moin! Ich bin Eva Lannes, die Sporttherapeutin, bitte einfach Eva sagen«, stellte sich eine drahtige blonde Frau um die fünfzig gut gelaunt vor. »Wir gehen nicht spazieren, wir walken. Die richtige Armbewegung ist dabei genauso wichtig wie das richtige Tempo. Als Grundregel könnt ihr euch merken: Wenn ihr Probleme habt, euch zu unterhalten, seid ihr zu schnell.«
»Wir haben nie Probleme zu quatschen!«, sagte eine etwas molligere Frau, und alle lachten Beifall.
Nachdem sich Caro und die anderen miteinander bekannt gemacht hatten, marschierte die Gruppe Richtung Strand. Es war immer noch recht frisch und windig, aber heute fand Caro es herrlich. Der Strand war fast menschenleer, nur einige Jogger und Walker waren unterwegs. Die Luft war zwar kalt, aber dabei so klar, wie sie es in Berlin niemals war. Schon von Weitem konnte sie die Seehunde sehen, die nebeneinander aufgereiht im Sand lagen und dösten. Die Seehundbank, die immer näher an den Strand heranwuchs, gehörte zum Naturschutzgebiet. Betreten war strengstens verboten, worauf mehrere Warnschilder hinwiesen. Wenn es ein vorwitziger Schwimmer trotzdem wagte, die kurze Strecke zur Bank zu schwimmen, um den Tieren ganz nahe zu sein, durfte er sich auf eine saftige Strafe gefasst machen. Und praktisch jeder wurde dabei erwischt, da die Rettungsschwimmer von derDLRG-Station am Strand auch immer einen Blick auf die Seehundbank hatten. Vor einigen Jahren war sie fast ausgestorben gewesen, die Seehundstaupe hatte die meisten Tiere dahingerafft. Zum Glück konnte sich der Bestand erholen, und heute lagen mehr Seehunde vor Borkum als je zuvor.
Nahe der Wasserkante, wo der Sand einigermaßen fest war, marschierte die Gruppe Richtung Seehundbank, ließ diese links liegen und überquerte eine wüstenähnliche Fläche, die zum nächsten Strandabschnitt führte, der allgemein als der Wellenstrand bezeichnet wurde. Hier schlugen die Wellen der Nordsee ungebrochen an Land, und es gab wirklich Strand, so weit das Auge reichte. Teilweise konnte Caro gar nicht das Ende sehen, überall war nur Sand, Sand, Sand, unterbrochen von kleinen Miniaturdünen, auf denen etwas Dünengras wuchs.
Für einen Moment war Caro überwältigt von der Schönheit der Natur. Seitdem Nils und Hinnerk sich verkracht hatten, waren sie nicht mehr nach Borkum gefahren und auch davor nur höchst selten hier gewesen. Sobald seine Firma richtig lief, hatte Nils sich ein Appartement auf Mallorca gekauft, und so schön Caro die spanische Insel fand, sie hatte nicht das Gefühl, dass sie mit Borkum mithalten konnte. Gut, die Wassertemperaturen waren am Mittelmeer zwar ein Vorteil, aber diese endlosen Strände gab es dort nicht. Caro konnte sich an der schier grenzenlosen Weite nicht sattsehen. Sie hatte sofort das Gefühl, einen klareren Kopf zu bekommen, freier atmen und abzuschalten zu können. Dieses Gefühl hatte sie im B