1
May Rosevere sitzt auf ihrer Terrasse in der Sonne und beobachtet, wie die Flut heranschleicht. Dieses Schauspiel sieht sie sich an den meisten Tagen an, sofern sie nichts anderes zu tun hat. Das Problem bei den Gezeiten ist allerdings, dass sie sich ständig verschieben. Wenn es kalt ist, legt sie sich ein uraltes Babytuch um die Schultern, bevor sie sich in ihren Schaukelstuhl setzt. Die Erinnerungen in der Wolle sind bereits verblasst, und das Baby, das es getragen hat, muss inzwischen dreißig Jahre alt sein, aber May fühlt sich trotzdem darin geborgen. Heute braucht sie das Tuch nicht. Sommer liegt in der Luft, und der Garten um ihr Granit-Cottage ist üppig grün.
Ein Mann mit einem gepflegten grauen Bart spaziert über den Strand. Tristram, denkt May und wedelt mit ihrem Taschentuch. Er bemerkt sie nicht – sein Hut ist bis über die Ohren gezogen, und er ist zu sehr damit beschäftigt, einen leuchtend roten Ball ins Meer zu werfen, um zu Mays Cottage heraufzuschauen. Der schwarze Labrador des Mannes blickt verächtlich zu dem Mann hoch und ignoriert den Ball. Tristrams kleinerer, biskuitfarbener Hund zeigt auch nicht mehr Begeisterung, da er konzentriert im Sand buddelt. Tristrams dröhnendes Gelächter wird in der unbewegten Luft bis zu ihr herangetragen. Er stapft auf die steinerne Anlegestelle zu, die die Bucht Pengelly Cove im Westen begrenzt. May nimmt das Tagebuch, das sie bei sich hat, schlägt die Seite für den ersten Juni auf und notiert sich etwas. Dieser Ball wird später wahrscheinlich angeschwemmt. Darin sind bestimmt eine Menge guter Erinnerungen verborgen. Dann holt die Wirklichkeit sie ein. Die Zeiten, in denen sie den Strand absuchen konnte, sind vorbei. Selbst wenn sie zufällig mitbekommen sollte, wie der Ball herantreibt, könnte sie nicht hinuntergehen und ihn holen.
Von Mays hinterer Terrasse bis zur Flutlinie sind es nur ein paar Hundert Meter, aber der Strand könnte genauso gut auf dem Mond sein. Mit einhundertzehn Jahren hat man für gewöhnlich eine eher eingeschränkte Umlaufbahn. Mays Schultern sacken herab. Sie steckt in einer Krise. Seit Wochen verliert sie immer mehr Lebenskraft, und sie weiß auch, warum. Ihr Vorrat an Erinnerungen ist vollkommen aufgebraucht.
May sieht auf den betagten Kater hinab, der zusammengerollt zu ihren Füßen liegt. »Na schön, Fossil, ich muss mir eben einfach was einfallen lassen«, erklärt sie ihm.
Der Kater kneift die gelben Augen zusammen und sagt nichts. May erwartet nicht wirklich eine Antwort. Auch wenn sie über gewisse Fähigkeiten verfügt, das Sprechen mit Tieren zählt nicht dazu.
»Ich brauche eine neue Erinnerungsquelle«, fährt sie fort. Fossil gähnt und streckt dabei die Zungenspitze heraus. »Kein Grund, unhöflich zu werden. Das hier ist ernst. Wenn ich keine Möglichkeit finde, mehr von meinen Schätzen zu … beschaffen, bin ich geliefert, wie Andy sagen würde.«
Andy ist Mays Nachbar. Sein Haus und seine Terrasse grenzen an ihr neues Zuhause. Mays solides einstöckiges Cottage aus Granit in der Memory Lane 59 wurde für die Ewigkeit gebaut. Bis vor einem Jahr war e