Kapitel 1
Melisse – Samstag, 10:20 Uhr
Eiseskälte umhüllt meinen schweren Körper, lähmt ihn und versucht, mich in den Erdboden zu ziehen. Ich liege auf dem Bauch und bringe es nicht fertig, mich zu bewegen. Wo bin ich? Was ist passiert? Das Nachdenken fällt mir so schwer. Was ist das nur? Langsam fahren meine Fingerspitzen über den Boden. Zarte Grashalme umschmeicheln meine Haut. Kitzeln. Necken. Ich bin bemüht, meine Augen zu öffnen, doch vergebens. Noch einmal versuche ich mich zu erinnern, durch das tiefe Dunkel zu dringen, das meinen Verstand verschlungen hat. Streit. Natürlich. Es gab eine Auseinandersetzung zwischen meiner Mutter und mir. Schon wieder. Und abermals wegen ihm. Es ist immer wegen ihm. Egal wie ich es anstelle, ich kann nicht gegen ihn gewinnen. Er ist immer im Vorteil. Sie glaubt mir nicht. Hat sie noch nie. Tut sie nicht. Wird sie auch nie. Da brauche ich mir nichts vorzumachen. Doch das ist nicht schlimm. Ich schaffe das. Kämpfen – ich muss kämpfen. Mir geht es gut.
Es gelingt mir, die Lider ein Stück zu öffnen. Dunkelgrüne Halme bedecken den kalten Erdboden und tanzen leicht im Wind. Das ergibt keinen Sinn. Wo bin ich? Ich blinzle ein paarmal, doch das Bild bleibt dasselbe, verschwindet einfach nicht. Ein Traum. Genau. Das ist es! Ich träume! Bestimmt ist es ein Traum. Das muss es sein. Dennoch fühlt er sich sehr realistisch an. Etwas zu realistisch. Diese Schwere, die meine Glieder zu lähmen scheint und all meine Kraft aus meinem Körper saugt … Unaufhaltsam wie ein Tsunami. Mühselig öffne ich meine Augen nun ganz und richte mich schwerfällig auf wie eine alte Frau. Vereinzelte Steinplatten, teilweise liegend und andere stehend, ragen aus dem grünen Meer wie kleine Inseln. Kühler Wind streicht mir sanft durch die Haare und lässt einen Schauer über meinen Rücken laufen. Fröstelnd schlinge ich meine Arme um mich, doch vergeblich. Es bringt nichts. Die Kälte kommt von innen. Von tief in mir drin. Dort, wo es schmerzt. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen. Der Boden schmatzt leise unter meinen Füßen, fast als würde er gleichsam mit meinem Herz weinen.
„Beruhige dich, Melisse. Dir geht es gut. Du gehst auf das Gymnasium und hast ordentliche Noten. Hungern musst du auch nicht und an Kleidern und Geld mangelt es nicht. Du hast ein Dach über dem Kopf und gute Freunde. Was wünschst du dir mehr?“, flüstere ich zu mir selbst und meine Stimme hört sich eigenartig fremd an. So, als würde sie nicht zu mir gehören. Rau wie Schleifpapier. Langsam sehe ich mich um, immer einen Schritt nach dem anderen setzend und die Schwere weicht allmählich von meinem Körper, als würde ich eine Decke abstreifen. Vor einer größeren Platte bleibe ich stehen und lasse meine Finger fast andächtig über den rissigen Stein gleiten. Verwaschene Schriftzüge sind darauf zu erkennen, doch ich kenne die eingravierte Sprache nicht. Dennoch bin ich mir sicher, dass es sich hierbei um ein Grab handelt. Ein sehr altes. Und nicht nur direkt vor mir – Ich stehe inmitten eines grünen Meers mit vereinzelten Gräbern. Nachdenklich laufe ich weiter, lasse meine Augen unermüdlich kreisen,