EINFÜHRUNG
Ein Mythos und seine Folgen
Sie war erst 19 Jahre alt.
Die Bulimie hatte mit zwölf Jahren begonnen. Nach zwei Krankenhausaufenthalten und einem Schulabbruch kam sie zu einer Einzelstunde in meine Praxis.
Nach all den Jahren war sie fast bulimiefrei, hatte ihre Essstörung fast überwunden. In den letzten Wochen aß sie keinen Zucker mehr. Es war ihr gelungen, alle „Triggerfoods“ wegzulassen. In der Folge hatte sie keine Attacke mehr erlebt.
Wie gesagt, in den Wochen, in denen sie auf die „gefährlichen“ Lebensmittel verzichtete, hatte sie keinen Anfall mehr. Sie fühlte sich so frei und gesund wie schon lange nicht.
Doch dann traf sie auf einen wohlmeinenden Mitmenschen, der an die gängige Theorie glaubte, dass eine Bulimikerin erst dann wirklich von ihrem Problem geheilt ist, wenn sie sich erlauben könne, alles zu essen, was auf dem Markt angeboten wird. Auch „gefährliche“ Lebensmittel wie Schokolade.
Diese Theorie heißt: „Restraint-Eating-Theorie“, es ist die Theorie vom gezügelten Essverhalten, das angeblich die Attacken auslösen soll.
Also aß meine Klientin doch ein Stück Schokolade. Unter Aufsicht. Ganz langsam und vorsichtig, schließlich wollte man ihr zeigen, wie harmlos Schokolade ist. Sie erlaubte sich, was wir uns alle erlauben. Und das hatte Folgen.
Ich glaube nicht, dass dieser Mensch ihr etwas Böses wollte.
Aber er hatte gelernt und als Wahrheit verinnerlicht, was auch mir beigebracht wurde und was die Norm in der Behandlung von Bulimie und Binge Eating ist:
Bulimikerinnen gelten als geheilt, wenn sie sich wieder erlauben können, alles zu essen. Alles, was im Lebensmittelgeschäft verkauft wird. Ob es sich dabei um naturbelassene Lebensmittel oder um kunstvolle Kompositionen aus Chemikalien