Freitag, 29. November
Nach reiflicher Überlegung hatte sich Katharina Schofeld dazu entschlossen, ihren kleinen Buchladen am Markt in Heiligenhafen zum Jahresbeginn erst ab elf Uhr zu öffnen. Zumindest für die erste Zeit des neuen Jahres. Sie war zwar auf jeden Cent angewiesen, den das kleine Geschäft abwarf, aber ihre familiäre Situation ließ zurzeit einfach keine andere Möglichkeit zu.
Eine spätere Öffnung des Geschäfts würde Katharina die Gelegenheit geben, sich intensiver um ihren Vater zu kümmern. Konrad Schofeld lebte seit dem Tod von Katharinas Mutter vor sechs Jahren allein in dem großen Haus am Ortsrand von Heiligenhafen und war vor einem Jahr an Demenz erkrankt. In den vergangenen Monaten hatte sich sein Zustand verschlechtert, woraufhin Katharina vor einigen Wochen beschlossen hatte, fürs Erste zu ihm zu ziehen. Aber auch ihre Anwesenheit hatte nicht verhindern können, dass ihr Vater in den letzten vier Wochen zweimal ausgebüxt war. Stets in der Nacht, wenn sie bereits im Bett gelegen hatte. Das erste Mal hatte sie im Halbschlaf das Geräusch der ins Schloss fallenden Haustür vernommen und es gerade noch geschafft, Konrad von dem Betreten der Hauptverkehrsstraße abzuhalten, die hinter dem Nachbarhaus verlief. Als Folge dieser nächtlichen Aktion hatte sie an Eingangs- und Terrassentür Sicherheitsketten anbringen lassen, in der Hoffnung, dass Konrad diese in verwirrtem Zustand nicht aufbekam. Allerdings hatte sie an einem Abend in der vergangenen Woche vergessen, die Kette an der Terrassentür einzuhaken, woraufhin ihr Vater prompt zu einem weiteren nächtlichen Ausflug aufgebrochen war. Dieses Mal hatte Katharina tief und fest geschlafen und Konrads Abwesenheit erst am nächsten Morgen bemerkt. Nachdem ihre panische Suche in der näheren Umgebung erfolglos geblieben war, hatte sie die Polizei alarmiert. Diese hatte ihr Konrad, der auf dem Friedhof am Grab seiner Frau aufgefunden worden war, zwar wohlbehalten zurückgebracht, aber seit diesem Vorfall fand Katharina nur schwer in den Schlaf und schreckte zwischendurch immer wieder hoch aus Angst, dass es Konrad doch gelang, die Sicherheitsketten aufzubekommen, und er womöglich zu weiteren nächtlichen Exkursionen aufbrechen würde. Sie konnte ihn ja schließlich nicht am Bett festbinden, und seine Zimmertür abschließen ging auch nicht, falls er nachts einmal zur Toilette musste oder Hunger bekam und sich etwas aus der Küche holen wollte.
Wenigstens tagsüber musste sie sich nicht allzu sehr beunruhigen, denn da war für Konrad gesorgt, woran der Pflegedienst, der dreimal am Tag für maximal eine halbe Stunde kam, allerdings den geringsten Anteil hatte. Zum Glück gab es Amelie, eine verwitwete Nachbarin und langjährige Freundin ihrer Eltern, die schon immer im Haus ein und aus gegangen war und jetzt mehrere Male am Tag vorbeikam, um nach Konrad zu sehen. Wenn Katharina keine Zeit gehabt hatte, etwas vorzukochen, brachte Amelie Essen mit oder animierte Konrad, mit ihr zusammen zu kochen. Sie sprang auch dann ein, wenn Katharina am Abend einmal etwas vorhatte, was allerdings nicht häufig der Fall war. Sie hatte zeit ihres Lebens nur wenige Freunde gehabt, und im Moment war es ihr einfach wichtig, so viel Zeit wie möglich mit ihrem Vater zu verbringen. Im vergangenen Jahr war er achtzig geworden, wer konnte sagen, wie lange sie ihn noch bei sich haben würde. Der Gedanke daran schmerzte sie, denn wenn Konrad nicht mehr war, hatte sie keine Familie mehr.
Im Augenblick war eine Verkürzung der Öffnungszeiten natürlich noch nicht möglich. Die Weihnachtszeit hatte begonnen, und häufig erschienen die ersten Kunden schon kurz nach Öffnung des Geschäfts um neun Uhr, um nicht nur nach Büchern Ausschau zu halten, sondern sich auch in dem angegliederten kleinen Café bei handgefertigten Leckereien aus einer kleinen Schokoladenmanufaktur und einem Kaffee oder Tee auf einen Plausch mit der Inhaberin niederzulassen. In solchen Momenten war Katharina froh, dass sie das Geschäft ihrer Eltern nach der Übernahme im vergangenen Jahr über den reinen Verkauf von Büchern hinaus erweitert hatte und ihren Kunden zusätzlich zu dem Lesecafé auch noch eine Reihe von Accessoires anbieten konnte, die für sie unweigerlich zu einer gemütlichen Lesest