: Hanno Sauer
: Moral Die Erfindung von Gut und Böse
: Piper Verlag
: 9783492603270
: 1
: CHF 23.60
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: Philosophie: Antike bis Gegenwart
: German
: 400
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Moderne Gesellschaften sind Krisengesellschaften: Universelle Werte sind erodiert, eine allgemeingültige Moral scheint für immer der Vergangenheit anzugehören. Doch der Schein trügt: Tatsächlich gibt es universelle Werte, die alle Menschen miteinander teilen. Hanno Sauer erzählt die Geschichte unserer Moral von der Entstehung menschlicher Kooperationsfähigkeit vor 5 Millionen Jahren bis zu den jüngsten Krisen moralischer Polarisierung. Und er beschreibt, welche Prozesse biologischer, kultureller und historischer Evolution die moralische Grammatik formten, die unsere Gegenwart bestimmt.

Hanno Sauer, Jahrgang 1983, ist Philosoph und lehrt Ethik an der Universität Utrecht. Er ist Autor zahlreicher Fachaufsätze und mehrerer wissenschaftlicher Werke. Zahlreiche Vorträge in Europa und Nordamerika. Hanno Sauer lebt in Düsseldorf.

Kapitel 1: 5 000 000 Jahre – Genealogie 2.0


Abstieg


Mit der Dürre verschwanden die Bäume. Und in dem Land, das zerbrach, bildeten sich steile Täler und raue Schluchten, riesige dunkle Seen und Sümpfe, hohe Berge und flache Hügel. Stachelige Büsche, Sträucher und scharfe Gräser traten bald an die Stelle der üppigen Wälder, die uns zuvor Schutz geboten hatten zwischen Lianen, riesigen, taubedeckten Farnen und saftigen Fettpflanzen, wo zwischen Wurzeln, die aus dem Boden aufragten, duftende Pilze auf bunten Blumenkelchen wuchsen.

Nachdem wir die Bäume und die Bäume uns verlassen hatten, erwartete uns das offene Land. In dieser neuen, grenzenlosen Welt regnete es Steine und Feuer, und es gab wenig zu essen. Dafür gab es große Tiere mit grimmigen Mäulern, die schneller waren als wir und genauso hungrig.

Ein Einkaufswagen, halb gefüllt mit Knochen aus Stein.[3] Mehr ist von unseren frühesten Vorfahren nicht übrig geblieben. Jedenfalls wurde nie mehr gefunden als ein paar Zähne, Schädelfragmente, Bruchstücke der Augenbrauenwülste, Teile von Unter- und Oberkiefern, Splitter von ein paar Schenkelknochen.

Die Fachterminologie ist verwirrend. Man unterscheidet heute verschiedeneTaxa (im SingularTaxon, nach dem altgriechischentáxis für Rang), je nachdem, auf welchem Arm des zoologischen Stammbaums man sich befindet und welche Unterschiede und evolutionären Abspaltungen betont werden sollen: Die Familie derHominidae schließt alle Menschenaffen ein, also neben der GattungHomo auch die Gorillas, Orang-Utans undPane, zu deren rezenten Vertretern die Schimpansen und Bonobos gehören; die BezeichnungHomininae bleibt dagegen, unter Ausschluss der asiatischenPonginae (Orang-Utan), für dieafrikanischen Menschenaffen reserviert, zu denen neben den Menschen nur diePane und Gorillas gehören. Der Begriff derHominini schließlich umfasst alle Menschen im engeren, aber immer noch nicht im engsten Sinn: Zu diesem Stamm – biologischTribus – gehören die frühesten menschenartigen (aber zugegeben noch nicht sehr menschlichen) Wesen, die vor ungefähr fünf Millionen Jahren begannen, Teile des südlichen und östlichen Afrikas zu bevölkern, eine Reihe von Australopithecinen und verschiedene schon vertrautere Kategorien wieHomo ergaster,erectus,heidelbergensis sowieneanderthalensis. Von diesenHominini sind heute nur wir übrig geblieben:Homo sapiens.

Kooperation


Die Evolutionsgeschichte der erstenHominini ist die Geschichte der frühesten protomenschlichen Vorläufer nach der Abspaltung von dem Vorfahren, den wir mit den anderen heute noch lebenden Menschenaffen teilen. Diese kritische erste Phase unserer Evolution lässt sich ungefähr auf die Zeit vor fünf Millionen Jahren eingrenzen.[4]

Die erhaltenen Fossilien – mit Ausnahme vonSahelanthropus tchadensis, dem ältesten, dessen asymmetrisch deformierter Schädel in der trockenen Djurab-Wüste im nördlichen Tschad an der Fundstelle Toros-Menalla entdeckt wurde – finden sich hauptsächlich im östlichen Afrika im heutigen Äthiopien, Kenia und Tansania: Fragmente des Oberschenkels und ein Daumenknochen vonOrrorin tugenensis in der Lukeino-Formation in den grün bewachsenen Tugen-Hügeln; die hinteren Backenzähne vonArdipithecus ramidus und der Unterkiefer vonAustralopithecus afarensis (zu der auch »Lucy« gehört) im Afar-Dreieck am Fluss Awash. Die zweite Hauptkonzentration von Fossilienfunden liegt in Südafrika, wo sich die Überreste verschiedener unserer Vorfahren in den Höhlen von Sterkfontein und Gladysvale, Drimolen und Malapa finden ließen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir diese Flaschenpost Leoparden und anderen großen Raubtieren verdanken, die in solchen Höhlen lebten und ihre Beute dorthin zu schleppen und zu fressen pflegten.

Heute sind unsere versteinerten Überbleibsel in paläoanthropologischen Forschungsinstituten auf der ganzen Welt zerstreut, wo sie mit bürokratischen Bezeichnungen versehen, aktenkundig, archiviert, registriert und unterscheidbar gemacht wurden:Sahelanthropus tchadensis heißt hier sehr prosaisch bloß TM 266,Orrorin tugenensis BAR 1000’00; andere Splitter, Fragmente, und Brocken werden als Stw 573, KT-12/H1 oder LH4 geführt.Ardipithecus ramidus heißt – wenig originell, aber immerhin – »Ardi«.[5]

Die Geschichte der Menschwerdung, die diese Funde uns erzählen, ist vorläufig. Sie bleibt, wie Philosophen manchmal sagen, in »Geiselhaft der empirischen Daten« und droht jederzeit durch neue Entdeckungen revidiert, korrigiert oder überholt zu werden. Das ist auch gut und richtig so, denn nur Dogmen bleiben unverändert – in der Wissenschaft ist für dauerhafte Erkenntnisse nur ausnahmsweise Platz. Der Zugriff auf unsere tiefste Vergangenheit bleibt immer spekulativ, aber nicht im nebulösen Sinn des Unüberprüfbaren und An-den-Haaren-Herbeigezogenen, sondern im soliden Sinn, in dem Legionen schlauer Köpfe, bewaffnet mit den gewieftesten Methoden vergleichender Morphologie, molekularer Genetik, Radiokarbondatierung, Biochemie, Statistik und Geologie, die plausibelste Version dieser Geschichte aus vielen heterogenen Theorien und Datensätzen zu rekonstruieren versuchen. Diese Rekonstruktion bleibt darauf angewiesen, welche ihrer Geheimnisse sich die Erdkruste durch geologische Zufälle mit uns zu teilen entschloss: Hier gleichen wir nicht selten dem Betrunkenen, der auf die Frage, warum er unter der Laterne nach seinem verlorenen Schlüssel suche, antwortet, dass dort eben das Licht am besten sei.

Die Wiege der Menschheit könnte nach Ostafrika verlegt worden sein, weil die geologischen Bedingungen dort Gesteinsschichten zutage förderten, die anderswo unter Dutzenden Metern von Geröll, Sand und Lehm vergraben blieben. Hinzu kommt, wie in allen wissenschaftlichen Disziplinen, eine Anreizstruktur, die auch die seriösesten Forscher dazu verführt, ihre jüngsten Funde vorzugsweise unseren Ahnen und nicht vermeintlich banaleren Arten zuzurechnen: Von Schimpansen und Bonobos gibt es erstaunlicherweise so gut wie gar keine Fossilien, wobei natürlich »niemand die Chance, zum Entdecker eines der frühesten Homininen zu werden, zugunsten des Entdeckers des frühesten Panins aufzugeben bestrebt ist«.[6]

Wenn wir von den frühesten menschlichen Vorfahren nach der evolutionären Abspaltung von den restlichen Menschenaffen sprechen, sprechen wir von Tieren, deren Physiognomie und Erscheinung nur sehr entfernt an den modernen Menschen erinnern. Kaum über einen Meter groß, mit den für Primaten charakteristischen überlangen Armen, hervorspringender Schnauze, offen stehenden breiten Nüstern und am ganzen Körper von dichtem schwarzbraunem Fell bedeckt, ähnelten diese Protomenschen heutigen Affen eher als uns. Erste Zeichen von Kultur und intelligentem Problemlösen finden sich erst wesentlich später: Die primitiven Steinwerkzeuge, die die tansanische Olduvai-Schlucht berühmt gemacht haben, sind höchstens 2,5 Millionen Jahre alt.

Auch damals war es schon warm, aber nicht zu warm, weil unser Lebensraum häufig in Höhen über 1000 Metern lag. In diesen offenen, locker bewaldeten Graslandschaften suchten wir in kleinen Gruppen tagsüber im Boden nach Wurzeln und Knollen, bitteren Sprossen und zerklüfteten Rhizomen, nach Nüssen und Termiten und fanden, mit etwas Glück, die Überreste von Tieren, die von Hyänen oder Löwen – damals noch bedeutend talentiertere Jäger als wir – zurückgelassen worden waren. Angetrocknete Fleischreste von deren Kadavern versorgten uns mit Proteinen, ebenso wie das Mark ihrer Knochen und Hirn, das wir mit geschickten Fingern aus ihren geborstenen Schädeln löffelten.

Vor zwei Millionen Jahren beginnt das Pleistozän, und damit eines der für die menschliche Evolution entscheidenden Erdzeitalter. Die Erde ist bevölkert von bizarrer Megafauna: Mammuts, Wollnashörner, Säbelzahntiger und Riesengürteltiere streifen durchs Land. Sie alle sind inzwischen ausgestorben, auch unseretwegen.

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