: Madlen Ziege
: Die unglaubliche Kraft der Natur Wie Stress Tieren und Pflanzen den Weg weist
: Piper Verlag
: 9783492602051
: 1
: CHF 20.00
:
: Natur: Allgemeines, Nachschlagewerke
: German
: 240
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Stress ist der Sündenbock unserer Zeit. Er ist schlecht und schadet der Gesundheit. Aus Sicht der Evolutionsbiologie ist Stress jedoch alles andere als gefährlich. Im Gegenteil: Er ist ein wichtiges Signal dafür, dass etwas im eigenen Lebensraum nicht stimmt. Ein Wegweiser, der alle Lebewesen raus aus der Misere an einen für sie besseren Ort bringt. Dieses Buch führt uns die erstaunliche Anpassungsfähigkeit von Tieren und Pflanzen vor Augen und zeigt, was wir von der Natur im Umgang mit Stress lernen können. Damit wir unsere Wurzeln am richtigen Ort schlagen und uns so schnell nichts umhaut!

Dr. Madlen Ziege hat in Potsdam, Berlin und in Australien Biologie studiert. In ihrer Promotion an der Goethe-Universität in Frankfurt untersuchte sie u.a. das Kommunikationsverhalten von Wildkaninchen in der Stadt und auf dem Land. Sie arbeitet als Verhaltensbiologin, ist Vorständin einer Naturschutzstiftung und bringt wöchentlich ihren eigenen Pod- und Videocast Die Sendung mit der Ziege heraus.

Einleitung


Eine Stadt, die k. o. schlägt


»Gesundheit bekommt man nicht im Handel,
sondern durch den Lebenswandel.«

Sebastian Kneipp

 

Alles ging so schnell. In nur einem Jahr sprang mein Status von »Doktorandin« auf »Hilfskraft« um. Ich fand für meine Forschung einfach keine Finanzierung und arbeitete nebenher als »Mädchen für alles« in der Graduiertenschule der Uni Frankfurt. Mein Promotionsstolz schmolz dahin wie Butter in der heißen Pfanne. Frustriert verbrachte ich meine Zeit mit Klammern und Kopieren, obwohl ich viel lieber kartiert und korreliert hätte. Zu dem ersten Job gesellte sich bald ein zweiter, denn das Geld reichte vorn und hinten nicht. All das hätte ich noch gut verkraften können, wäre da nicht permanent das Gefühl gewesen, in Frankfurt völlig fehl am Platz zu sein.

Vielleicht lag es daran, dass ich schon rein optisch nicht an diesen Ort passte. Die monochrome Mainmetropole mit den vielen Banker:innen in ihren schwarz-weißen Anzügen wirkte auf mich sehr formal und streng. Ich hingegen bin alles andere als formal und streng. Mit meinem lila Mantel zu roten Hosen und blauen Turnschuhen fiel ich in Frankfurt auf wie ein Paradiesvogel unter einem Schwarm Störche. Ich fühlte mich wie auf dem Präsentierteller und spürte permanent, wie die Blicke auf mich gerichtet waren. In meiner Lieblingsstadt Berlin hingegen scherte sich niemand um meinen Modegeschmack. Da sind bunte Vögel völlig normal.Kam mir das alles nur so vor, oder kann eine Stadt wirklich nicht zu einem passen?

Die Eigenlogik der Städte


Dem anfänglichen Gefühl, fehl am Platz zu sein, gesellten sich im zweiten Promotionsjahr Anzeichen von Stress hinzu, die mich bis in die Bewusstlosigkeit eines Nervenzusammenbruchs treiben sollten. Ich fühlte mich extrem unter Druck gesetzt und war immer in Eile. Mein linkes Auge begann zu zucken, mir gingen die Haare aus, und ich konnte nicht mehr einschlafen. Ich fühlte mich völlig überlastet, redete mir aber ein, dass Stress zur Promotion dazugehörte. Nur die Harten komm’ in Garten.

Um für Abhilfe zu sorgen, belegte ich alle Entspannungskurse und Zeitmanagementprogramme, die ich finden konnte. Nach der Arbeit rannte, schwamm und tanzte ich meinem Stress davon. Dreimal die Woche atmete ich mich im Quadrat durch die Yogastunde.

All das half nur kurz. Spätestens am nächsten Tag war mein Stress wieder da und zeigte mir höhnisch grinsend seinen Mittelfinger. Ich griff zu drastischeren Maßnahmen: Schweigend starrte ich für eine Woche in einem Zenkloster die Wand an. Von oben bis unten mit Öl eingeschmiert schwitzte ich während einer dreistündigen Ayurveda-Behandlung meine Schlacken aus. Abseits von menschlicher Zivilisation pflückte ich sieben Tage lang achtsam Aroniabeeren. Doch sobald ich meinem Alltag in Frankfurt wieder nachging, war von der Ruhe und Entspannung nichts mehr übrig. Die Anti-Stress-Mittel gegen Kurzatmigkeit, Kopfschmerz und Kahlschlag packten das Übel offensichtlich nicht an der Wurzel. Hinzu kam die Angst vor dem Stress selbst. In meinem Kopf war der Satz »Du musst dich entspannen!« ständig präsent. Dieser Gedanke setzte mich noch mehr unter Druck, denn ich war alles andere als entspannt. Stress war für mich wie ein Mückenstich am Hintern: Ich konnte ihn nicht sehen, aber spüren, und je häufiger ich mir eine kurze Wohltat durch Kratzen verschaffte, desto schlimmer juckte es. Es war ein Teufelskreis.

 

Als ich volle drei Tage hintereinander keinen Schlaf gefunden hatte, suchte ich Hilfe bei einer psychologischen Beratungsstelle für Promovierende. Die Beraterin stellte mir viele Fragen: Warum ich die Promotion will. Was meine Zukunftsvorstellungen sind. Was für mich Gesundheit bedeutet. Ich war völlig überfordert. Konnte sie mir nicht einfach sagen, was ich tun sollte? Ich schämte mich regelrecht für meine Ratlosigkeit. Was, wenn ich all die Jahre in die falsche Richtung gelaufen war? Hätte ich auf mein Gefühl hören und schnell wieder aus der Mainmetropole verschwinden sollen? Die Vorstellung, nach so viel Arbeit gescheitert zu sein, war für mich ein Albtraum. Jetzt hatte ich schon so viel Zeit und Energie in meine Promotion gesteckt. Ich wollte nicht aufgeben. Scheitern ist Scheiße.

 

Den Rat der Psychologin, Prioritäten zu setzen und meine Energie nicht auf Tausenden Baustellen zu verpulvern, setzte ich sofort um. Ich kündigte meinen zweiten Job als Umweltpädagogin. Das fehlende Geld überbrückte ich mit einem Kredit.

Meine Stresssymptome beeindruckte diese Entscheidung jedoch nur wenig. Anscheinend hingen meine Probleme nicht direkt mit meiner Arbeitsbelastung zusammen, denn die Situation wurde noch schlimmer.

Inzwischen befand ich mich im vierten Jahr meiner Promotion. Der vierzigminütige Weg raus zum Campus am nördlichen Stadtrand wurde für mich unerträglich. Noch nie hatte ich so viel Widerstand dagegen gespürt, mich morgens in Bus und U-Bahn zu setzen. Ich funktionierte nur noch. War wie betäubt. Frankfurt war mir zuwider. Lustlos, gestresst und depressiv war ich am Tiefpunkt angekommen. Ich hoffte nur, dass niemand merkte, dass ich kaum noch etwas gebacken bekam.

Der Supergau ereignete sich am 11. Oktober 2013. Es war ein Freitag. Das rettende Wochenende klar vor Augen hatte ich mir fest vorgenommen, den Papierstapel auf meinem Tisch abzuarbeiten. Doch ich schaffte es nicht einmal, den Computer anzuschalten. Wie gelähmt starrte ich auf den Bildschirm und verstand nicht, was gerade mit mir passierte. Dann ging das Weinen los – so heftig, dass ich nach Luft schnappte und mir schwindelig wurde. Außer mir war niemand im Büro. Ich rief meinen Ex-Freund an, von dem ich mich erst ein paar Wochen zuvor getrennt hatte. Er konnte mich am Telefon kaum verstehen, so sehr musste ich heulen. Ich war am Hyperventilieren. Mir wurde schwarz vor Augen.

Ich musste für einige Minuten ohnmächtig gewesen sein. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich noch immer das Handy in der Hand. O Mann! Was war das denn? So etwas Krasses hatte ich noch nie erlebt. Ich war noch stundenlang völlig durcheinander.

Ich rief die psychologische Beraterin an und erzählte ihr von dem Vorfall. Warum hatte ich trotz all meiner Bemühungen, den Stress zu reduzieren, einen Nervenzusammenbruch erlitten? Sie konnte mir keine konkrete Antwort geben. Jeder Mensch ist eben anders und reagiert unterschiedlich auf seine Umgebung. Na toll! Damit fühlte ich mich endgültig als Versagerin abgestempelt. Endstation Frankfurt.

Frustriert nahm ich mir vier Wochen Auszeit, die ich in meiner alten Heimat Berlin verbrachte. Und siehe da, kaum verließ der Zug Frankfurt, spürte ich eine große Erleichterung. In Berlin waren sämtliche Symptome wie weggeblasen, und es ging mir großartig. Wie war das möglich? Verlor ich langsam auch noch meinen Verstand und bildete mir alles nur ein?

Ich recherchierte und wollte wissen, ob andere Menschen ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. Ob Städte einen wirklich bis zur Bewusstlosigkeit treiben konnten. Von einigen Kolleg:innen wusste ich, dass Frankfurt als Wohnort auch nicht die erste Wahl war. Sie waren selbst wegen der Promotion oder wegen des Partners notgedrungen aus Berlin, Leipzig oder Hamburg weg in die hessische Metropole gezogen. Eine so große Aversion gegen die Stadt wie ich hatte jedoch keiner von ihnen.

 

Mehrere Blogeinträge und Printartikel später war mir klar: Ich bin nicht allein. Es gibt da draußen viele wie mich, die in der falschen Stadt leben und furchtbar darunter leiden. Die traurig durch die Straßen schlurfen und sich an andere Orte träumen. Für die einen ist Hamburg falsch, für die anderen Berlin oder Dortmund. »Fehl am Platz« ist nicht nur mein persönliches Phänomen. Es beschäftigt viele Menschen.

Eine...