: Kai Strittmatter
: Gebrauchsanweisung für China Aktualisierte Neuausgabe 2022
: Piper Verlag
: 9783492601689
: 1
: CHF 4.00
:
: Asien
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Nein, nicht in Italien: Chinakenner Kai Strittmatter weiß, wo Pasta und Fußball wirklich erfunden wurden. Wieso Sie China nie ohne Ohrenstöpsel betreten sollten. Wie Sie sich für Zufallsbegegnungen im Zug­abteil oder auf dem Plumpsklo wappnen. Weshalb Chinesen am liebsten in Scharen auftauchen und wieso sie sehr wohl das »r« rollen können. Warum sie uns plötzlich die Milch wegtrinken und was sie außer »Sissi« und Audis sonst noch an Deutschland mö­gen. Dass der Mao-Anzug in China gar nicht Mao-Anzug heißt und trotzdem ein Comeback als schickes Modezitat feiert. Wie die Kommunisten heute Kon­fu­zius und die Pandabären für sich einspannen und überhaupt die größte Fälschung des Landes sind. Und was bei alledem Frühlingsrollen und Weißwürste ge­meinsam haben.

Kai Strittmatter, Jahrgang 1965, studierte Sinologie in München, Xi'an (Volksrepublik China) und Taipei (Taiwan). Für die »Süddeutsche Zeitung« war er ab 1997 acht Jahre lang Korrespondent in Peking. Von 2005 bis 2012 berichtete er für die SZ von Istanbul aus über die Türkei und Griechenland, von 2012 bis 2018 war er wieder deren Korrespondent in Peking. Er gilt als einer der besten China-Kenner Deutschlands. Inzwischen ist er Skandinavien-Korrespondent für die Zeitung. Kai Strittmatter lebt mit seiner Familie in Kopenhagen, Dänemark. Bei Piper sind von ihm außerdem »Gebrauchsanweisung für Istanbul«, »Die Neuerfindung der Diktatur« und zuletzt »Chinas neue Macht« erschienen.

中文Zhong wen

Chinesisch. Oder: Fremde Zeichen


Einmal hatte ich im Zug von München ins Allgäu eine Begegnung mit einem jungen Burschen, der sich besoffen auf seinen Sitz warf, hernach das amerikanische Pärchen auf der anderen Seite des Ganges anpöbelte und ihnen zum Abschied neben den Rucksack kotzte, kurz: jemand, den wir in meiner Heimat ein »Mords-Rindviech« heißen, und es ist mir die Vorstellung doch unangenehm, der Amerikaner wäre zufällig Reiseschriftsteller gewesen und jener Betrunkene tauchte später in einem Buch über die Deutschen als Vertreter der bayerischen Lebensart auf.

Obwohl.

Es begibt sich aufs glatte Eis, wer die Chuzpe besitzt, aus zufälligen Erfahrungen und Begegnungen allgemeine Schlüsse zu ziehen. Gerade darum möchte ich beginnen mit sieben Widerreden gegen hartnäckige China-Gemeinplätze. Völkerverständigung ist ja nicht nur deshalb etwas Schönes, weil man im Zuge derselben viele hübsche fremde Frauen und Männer kennenlernen kann, die in einem solchen Falle stets das Prädikat »exotisch« tragen, sondern vor allem, weil sie hilft, »Vorurteile abzubauen«.

Der Leser leiste mir also Gesellschaft bei diesem löblichen Brauch – und sehe es als eine Art vorbeugenden Ablasshandel gegen all die Sünden, deren ich mich in den folgenden Kapiteln schuldig mache. Folgendes, lieber Leser, sind Klischees und Märchen, die Sie bitte umgehend aus der »Ich sag jetzt einfach mal«-Windung Ihres Gehirnes streichen möchten:

 

  1. »Chinesen essen immer Reis.« – Das letzte Mal, als ich in meinem Lieblings-Nudelladen war, hörte ich bei einem Dutzend Sorten handgemachter Pasta auf zu zählen. Es waren mittelalterliche italienische Raubkopierer, die Nudel und Nudelverwandtes nach Europa entführt haben.
  2. »In China gibt es zwei Geschmacksrichtungen: Süß und sauer.« – Auf ihrem Rückweg ging den Italienern der Rest der chinesischen Küche leider verloren, weshalb Chinarestaurants in Europa auch heute noch ein Hort abgrundtiefer Tristesse sind.
  3. »Chinesen sind verschlossen, leise, höflich, bescheiden und zurückhaltend.« – Diesem Irrtum liegt eine Verwechslung zugrunde: Das sind die Japaner. Wenn Sie in Zukunft einer Gruppe Asiaten begegnen, die für sich als fröhlicher Rummelplatz durchgehen könnte, dann dürfen Sie davon ausgehen, dass Sie es mit Chinesen zu tun haben.
  4. »Chinesen können kein ›R‹ aussprechen und sagen stattdessen immer ›L‹.« – Ich habe Chinesen getroffen, die rollen ein R, dass man in Deckung geht, weil man ein Gewitter im Anmarsch vermutet. Wahr ist allerdings, dass sie in ihrer eigenen Sprache auf den rauen ›R‹-Laut verzichten.
  5. »Alle Chinesen sehen gleich aus.« – Und das denken Chinesen: »Alle Europäer sehen gleich aus.«
  6. »In China herrscht der Kommunismus.« Falsch.
  7. »In China herrscht der Kapitalismus.« Genauso falsch.

 

Was herrscht denn dann in China?

Gemach, ein zu widerlegendes Vorurteil habe ich noch:»Chinesisch ist eine schwere Sprache.« Das ist ein gern gepflegter Mythos auch von Chinesisch-Sprechenden, die sich damit der Bewunderung ihrer Zuhörer versichern. Es ist außerdem Blödsinn. In China selbst ist es immerhin 1,4 Milliarden Menschen unterschiedlichster Intelligenz gelungen, das Chinesische zu erlernen, und zwar recht fließend. Ich möchte sogar behaupten: Chinesisch ist eine der einfachsten Sprachen der Erde. Ich rede jetzt vom gesprochenen Chinesisch, dem es auf wundersame und vorbildliche Weise gelingt, praktisch ohne Grammatik auszukommen, zumindest ohne all die stacheligen Konjugationen und garstigen Deklinationen, ohne die Fälle, ja sogar ohne die Tempi, die einen in Europa beim grenzüberschreitenden Flirten, Fluchen und Feilschen so plagen. Geht nicht? Geht doch: Wenn Sie auf Chinesisch ausdrücken wollen, dass etwas gestern passiert ist, dann sagen Sie halt »Gestern«, das arme Verb können Sie getrost in Frieden lassen.

Mit schuld am Ruf der Unerlernbarkeit ist die Tatsache, dass jedes Wort im Hochchinesischen in vier Tonhöhen ausgesprochen werden kann (im Kantonesischen sind es sogar sechs) – und dass es jedes Mal etwas anderes bedeutet. Vor staunenden Laien werden gerne Zungenbrecher hervorgekramt wie jene viel bemühte Sentenz»Ma ma ma ma ma?«, die, vorausgesetzt man trifft die richtigen Töne, bedeutet: »Schimpft die pockennarbige Mutter das Pferd?« Lassen Sie sich davon nicht einschüchtern: Auch die Sache mit den Tönen ist nur halb so schlimm, und selbst Pferdebesitzer unter den Anfängern können der Verlegenheit leicht aus dem Wege gehen, indem sie ihren Rappen höchstens dann bei der Mutter von nebenan in Pflege geben, wenn sie sich vergewissert haben, dass die Frau noch nicht die Blattern hatte.

Richtig ist allerdings, dass auch unter Chinesen die Vermutung weit verbreitet ist, die Beherrschung ihrer Sprache sei ihnen in die Gene gestrickt und Menschen mit weißer Haut und grünblauen Augen gewissermaßen qua Geburt verwehrt. Vor allem in den Provinzen gerät der Fremde so in Situationen, in denen er in der Landessprache nach dem Weg fragt und vom Angesprochenen lediglich einen verständnislosen Blick erntet, weil es ja unmöglich Chinesisch gewesen sein kann, was da aus dem Mund des Ausländers purzelte. Mir wurden auch schon wiederholte Nachfragen beantwortet mit einem lakonischen »Entschuldigung, wir sprechen kein Englisch«. Das mag aber auch ein höflicher Kommentar zur Qualität meines Mandarin gewesen sein.

Es ist dies psychologisch ein interessanter Vorgang, der auch umgekehrt funktioniert. John Steinbeck erzählt in »Jenseits von Eden« vom chinesischen Farmarbeiter Lee, der sein Leben lang das gebrochene Pidginenglisch der Einwanderer plappert – bis Farmer Samuel eines Tages durch Zufall entdeckt, dass der in Kalifornien geborene Lee des feinsten Englisch mächtig ist. Der verblüffte Samuel stellt Lee zur Rede und fragt ihn, warum in aller Welt er zu den Leuten im Dorf nicht in normalem Englisch spreche, woraufhin Lee ihm erklärt, er habe dies früher wohl versucht, sei dann aber grundsätzlich ignoriert oder nicht verstanden worden: weil die Leute von einem Chinaman wie ihm einfach kein Englisch erwarteten. »Du siehst, was ist«, lobt Lee seinen Boss Samuel. »Die meisten Menschen aber sehen nur, was sie erwarten.«

Um mich dem zu nähern, »was ist«, habe ich die Form des Wörterbuches gewählt. China soll sich in diesem Buch über seine Begriffe und sein Verhältnis zu diesen zu erkennen geben. Ein zweites Motiv war der Zauber der Schriftzeichen selbst: ihre Schönheit, ihre schicksalhafte Bedeutung für das Land. Stärker als bei uns war Schreiben in China Kulturtechnik, die weit mehr vermochte, als bloß Information zu vermitteln: Die Schrift hielt China zusammen. Das galt spätestens, seit der erste Kaiser im Jahr 221 vor Christus alle im Reich umherzigeunernden Zeichen ins Einheitsquadrat pferchte. Die Schrift war Klammer: für all die Provinzen dieses Landes, das eigentlich ein Kontinent ist und in dessen Ecken und Enden noch immer Dutzende von Dialekten gesprochen werden, die miteinander so viel oder so wenig zu tun haben wie das Deutsche mit dem Englischen. Und sie war die Klammer für die Jahrtausende: Die den Chinesen eigene Intimität mit ihrer Geschichte hat auch mit den Schriftzeichen zu tun, die sich über Jahrtausende hinweg kaum geändert haben. Ein durchschnittlich gebildeter Chinese, der vor einer Tempelinschrift aus dem zwölften oder einer Stele aus dem achten Jahrhundert steht, wird die hineingeschnitzten und -gemeißelten Zeichen sofort erkennen und mit etwas Glück den Text lesen können – was eine Vertrautheit mit dem eigenen Altertum ermöglicht, die uns unvorstellbar ist.

Leider verdankt China dies ausgerechnet jener Eigenart seiner Schrift, die ihre Studenten gern zur Verzweiflung treibt: Anders als bei uns hat ein chinesisches Zeichen mit der Aussprache des Wortes, das es darstellt, nichts zu tun. Die autonome Existenz der Schriftzeichen im Reich der Bilder hat wie beschrieben den Vorzug, dass dieselben Zeichen verschiedenen Dialekten zur Verfügung stehen können und dass die Schrift über die Jahrhunderte hinweg nicht dem Wandel des gesprochenen Chinesisch nachhecheln musste: Es haftet ihr also der Hauch des...