Einleitung
»Der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein …«.1 Berühmt wurde dieses Zitat des katholischen Theologen Karl Rahner aus den 1960er Jahren. Religion als Übernahme vorgegebener Dogmen gab Rahner keine Zukunft mehr. Religiöser Glaube muss auf eigenem Erfahren gründen. Und diesen Frommen von morgen bezeichnete Rahner als »Mystiker«. Während damals viele dem Begriff Mystik noch skeptisch gegenüberstanden, sah er im Mystiker sogar die Zukunft des Christentums. Allerdings verband Rahner mit Mystik nicht mehr die Welt außergewöhnlicher Erfahrungen weniger Heiliger oder spiritueller Eliten. Karl Rahner war ein Vertreter eines neuen, demokratischen Verständnisses von Mystik. Mystik bedeutete für ihn: Die auf Erfahrung gegründete Religiosität für jeden Menschen.
Wo stehen wir nun heute, über ein halbes Jahrhundert nach dieser visionären Aussage? Die Bedeutung von Mystik als auf Erfahrung gegründete Religion wurde viel diskutiert und erscheint heute in breiten Kreisen nicht mehr als ungewöhnlich.2 Das Problem blieb und bleibt jedoch, wie spirituelles oder mystisches Erfahren zu realisieren ist. Vielfach wurden Hilfen vor allem bei den spirituellen Übungsformen Asiens gesucht. So öffnete man sich für die den Körper integrierenden Wege des Yoga oder für Meditationsformen der buddhistischen Spiritualität. Auch Übungsformen aus dem daoistischen Kulturkreis, wie etwa das Qigong, konnten wichtige Hilfen geben.3 Wahre Schätze sind jedoch auch in der christlichen Tradition vergraben, in der christlichen Mystik des Hochmittelalters und in der frühen Neuzeit. In den Blick rücken hier vor allem die Predigten und Traktate des Meister Eckhart aus dem späten 13. und frühen 14. Jahrhundert.
Mit Meister Eckhart begegnen wir einem Meister der christlichen Mystik, der zu den bekanntesten Theologen, Philosophen und spirituellen Lehrern seiner Zeit gehörte. Nachdem jedoch nach seinem Tod Sätze aus seinem Werk als ketzerisch verurteilt wurden, geriet Eckhart über viele Jahrhunderte weitgehend in Vergessenheit. Die Wiederentdeckung dieses wohl bedeutendsten Vertreters der Mystik des Hochmittelalters begann im 19. Jahrhundert und dauert bis heute noch an. Das Potenzial, das in dieser Wiederentdeckung für die Entwicklung einer Spiritualität der Gegenwart liegt, ist dabei bei Weitem noch nicht ausgeschöpft.