: Anna Veronika Wendland
: Befreiungskrieg Nationsbildung und Gewalt in der Ukraine
: Campus Verlag
: 9783593454597
: 1
: CHF 22.00
:
: Zeitgeschichte (1945 bis 1989)
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Für viele Deutsche war der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine der Anlass, diesen zweitgrößten Flächenstaat Europas erstmals als Akteur in der europäischen Geschichte wahrzunehmen. Doch für die Ukrainer ist dieser Konflikt nur der vorläufige Höhepunkt in einer langen Reihe von Versuchen, ihr Land als selbstständiges Staatswesen auf die Landkarte zu bringen. Anna Veronika Wendland entfaltet in diesem Buch, so kenntnisreich wie thesenstark, das gesamte Panorama der ukrainischen Geschichte von den Anfängen im mittelalterlichen Kyjiw über die frühneuzeitlichen Staatsbildungsversuche bis hin zu den katastrophalen Erfahrungen des 20. und 21. Jahrhunderts. Kriege und Gewalt spielten in der immer wieder unterbrochenen Nationsbildung der Ukraine eine genauso prägende Rolle wie die friedlichen Phasen des Sich-Arrangierens mit den Nachbarn oder sogar des Profitierens von der Oberherrschaft des russländischen Imperiums oder der Sowjetunion. In diesem Wechselspiel entwickelten die Ukrainer ihre spezifischen Verfassungstraditionen und Freiheitsvorstellungen - und wurden so von einem Bauernvolk unter fremden Herren zu einer modernen, pluralistischen Industrienation, die sich heute ihrer Haut in einem Krieg gegen die Atommacht Russland erwehrt.

Anna Veronika Wendland, Dr. habil., ist Historikerin mit einem Forschungsschwerpunkt in der Geschichte der Ukraine und der Sowjetunion sowie der Umwelt- und Technikgeschichte. Sie arbeitet am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg.

1.Eine Geschichte von Befreiungskriegen? Freiheit, Gewalt und Nationsbildung in der Ukraine


Als am 10. November 2022 ukrainische Truppen die von Russland besetzte und annektierte Stadt Cherson am Dnipro befreiten, wurden sie von erschöpften und glücklichen Bürgern umringt, die sich in blau-gelbe Landesflaggen gehüllt hatten und ihnen – auf Russisch! – zuriefen: »Slawa Ukraine!« (»Ruhm der Ukraine«). Dieser Ruf, der noch einige Jahre zuvor in seiner ukrainischen Form,»Slawa Ukrajini«, nur unter ukrainischen Nationalisten gebräuchlich war, und die Tatsache, dass sie ihn ins Russische übertragen hatten, stehen wie ein Emblem über diesem gesamten Krieg: Kriege, Kämpfe, Gewalt, Befreiung und Nationsbildung gehören in der Ukraine zusammen, aber im seltensten Fall so, wie es Außenstehende erwarten würden. Wir finden ukrainische Patrioten, gar Nationalisten, die zeit ihres Lebens Polnisch oder Russisch sprachen; wir finden Menschen ukrainischer Zunge, die in den Korridoren der russischen imperialen Macht Karriere machten und stets loyale Untertanen der russländischen Reiche von der Schwelle der Moderne bis zur Sowjetunion waren – um dann in den Momenten historischer Krisen und Kipppunkte sich doch für ihr Land, die Ukraine, zu entscheiden und dafür zu kämpfen. Dieser Ruf entwickelte sich binnen eines Jahrhunderts vom Erkennungszeichen einer extrem-nationalistischen – manche sagen auch: faschistischen – Bewegung der 1930er Jahre in den ukrainischen Gebieten Polens zu einem Kampfruf der demokratischen Ukraine, deren Bürgerinnen und Bürger nach dem im Februar 2022 eröffneten russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine unter dem jüdischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in den Befreiungskrieg ziehen, der aber eigentlich ein aus der Not geborener, improvisierter Verteidigungskrieg ist. Daher müssen wir unseren Begriff, der diesem Buch seinen Titel gibt, zunächst kritisch prüfen.

Befreiungskrieg: Begriff und Kritik


Die Idee, die Geschichte der Ukraine als eine Geschichte von Befreiungskriegen zu schreiben, gab es schon früher in modifizierter Form: das war die Geschichtsvorstellung sowjetukrainischer Historiker, die die marxistische Lehre von der Weltgeschichte als einer Geschichte von Klassenkämpfen auf die eigene Geschichte anzuwenden versuchten und Aufstände, Kriege und andere Gewalterfahrungen der Ukrainer in dieses Schema einordneten. Doch in diesem Buch steht der Begriff des Befreiungskrieges nicht für ein Bewegungsgesetz der Geschichte, sondern für eine Perspektivierung der ukrainischen Geschichte. Aus aktuellem Anlass soll der Fokus der Betrachtung auf dem Zusammenhang von Freiheitsgedanken, Selbstermächtigung, Gewalt und Nationsbildung liegen.

In Typologien des Krieges versuchen Konfliktforscher, Kriege nach ihrem Erscheinungsbild, ihrer Intensität, ihren Trägergruppen und ihren Verläufen zu kategorisieren. Nicht jeder bewaffnete Konflikt ist ein Krieg. Der Krieg zwischen der Ukraine und Russland würde in solchen Typologien als hochintensiver zwischenstaatlicher Krieg eingeordnet. Ein zwischenstaatlicher Krieg ist definiert durch zentrale Organisation, Beteiligung regulärer Armeen und eine Mindestdauer und Intensität, die sich durch die Anzahl der Opfer bemisst.1 Nach einem Jahr russischer Totalinvasion zählt die russische Seite rund 150.000 Verwundete und rund 50.000 Gefallene, die ukrainische rund 100.000 Verwundete und 20.000 Gefallene, dazu sind schätzungsweise 30.000 Zivilisten ums Leben gekommen.2 Wir können also ohne Zweifel von einem Hochintensitätskrieg sprechen.

Eigentlich sind solche klassischen Kriege seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs selten geworden, so der einhellige Befund der Forschung: Viel häufiger sind sub- und nichtstaatliche Kriege, in denen unterschiedliche bewaffnete Gruppen innerhalb von Staaten kämpfen, wie im Südsudan und in Haiti, wo wir von einem weitgehenden Staatszerfall sprechen können. Häufig gibt es auch asymmetrische Kriege, in denen eine Regierung mit regulärem Militär Guerilleros oder eine innerstaatliche Gegenpartei bekämpft, wie in Myanmar, wo die legitime Regierung nach einem Putsch in den Untergrund gegangen ist und weite Teile des Landes mit Guerilla-Armeen kontrolliert. Meist finden diese Konflikte im globalen Süden statt, Europa ist nur noch selten Kriegsschauplatz.

Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler beschrieb 2002 in seinem Buch über die »neuen Kriege« den globalen Typus der nichtstaatlichen Gewaltunternehmer, welche die Kriege der Zukunft prägen würden. Zwanzig Jahre später erscheint der Ukraine-Krieg wie eine Widerlegung seiner These, derzufolge der neue Kriegstypus nicht mehr durch Fronten, Schlachten und staatliche Kriegsparteien gekennzeichnet sei, sondern durch einen diffusen Städtekrieg gegen die Zivilbevölkerung.3 Der Fall Ukraine, in dem es all das gibt, was Münkler für vergangen erklärte – Fronten, große Armeeverbände, großflächige Vorstöße, massenhafte Vernichtung von Infrastruktur, Schlachten, in denen an einem Tag so viel Munition verschossen wird, wie eine Munitionsfabrik in einem Jahr produziert und die in ihrer Intensität an den Ersten Weltkrieg erinnern –, scheint aus dieser Perspektive regelrecht aus der Zeit gefallen. Oder ist dem gar nicht so? Zumindest auf der russischen Seite spielen seit Initiierung des Krieges 2014 irreguläre Milizen und Söldner-Unternehmen – das bekannteste ist die sogenannte »Wagner«-Gruppe« – eine wichtige Rolle. Handelt es sich also auch in der Ukraine um einen »Neuen Krieg«, oder ist dieser Krieg die Ausnahme, welche die Regel widerlegt?

Womöglich waren es aber gerade Vorstellungen wie jene Münklers, die Zeiten solcher Kriege seien endgültig vorbei, die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten so etabliert haben, dass auch fast alle Beobachter und Politiker im Westen bis unmittelbar vor dem 24. Februar 2022 diesen Krieg für unmöglich oder zumindest unwahrscheinlich hielten. Nicht, weil die Evidenz ihnen diesen Schluss nahelegte, sondern weil sie sich eine totale Invasion Russlands einfach nicht vorstellen mochten, weil sie so absurd und gar nicht im russischen Interesse liegend erschien. So trug auch die Haltung der Deutschen zum Überraschungsmoment der »Zeitenwende« bei. Die Verfasserin des vorliegenden historischen Essays hält sich zugute, nicht dazugehört und schon relativ früh die Befürchtung geäußert zu haben, die Entwicklung laufe geradewegs auf einen großen Krieg zu.4

In jedem Falle können wir die Erfahrung des russisch-ukrainischen totalen Krieges seit Februar 2022 als Zäsur betrachten und ebenso als vorläufiges Ende der europäischen Friedensordnung. Erstmals seit 1945 führen zwei europäische Staaten gegeneinander Krieg, auch wenn der Angreifer den Kriegsbegriff lange zu unterdrücken versuchte: In Russland durfte man bekanntlich, solange das Regime die Sprachregelung »Spezialoperation« ausgab, nicht von einem Krieg sprechen. Auch jetzt, nachdem das Regime vom »Krieg« spricht, wähnt es sich nicht im Krieg mit der Ukraine (die man ja glaubte, per Spezialoperation erledigen zu können), sondern im Krieg mit der NATO.5

Historische Kriege insbesondere in der frühen Neuzeit sind auch als Staatsbildungskriege bezeichnet worden – das wichtigste Beispiel ist der Dreißigjährige Krieg, der viele der heute noch existierenden modernen Territorialstaaten erschuf. Der Frühneuzeithistoriker Johannes Burkhardt machte als Grundlage des Staatsbildungskrieges nicht ein Zuviel an Staatlichkeit, sondern gerade dienoch nicht etablierte Staatlichkeit, die inneren Konflikte und Machtinstabilitäten der damaligen Herrschaftsverbände aus, die eine »bellizitäre« Wirkung gehabt hätten.6 Unter modernen Vorzeichen könnte man diese Analyse auch auf die Ukraine und Russland übertragen, deren Nationalstaatsbildung noch nicht abgeschlossen ist. Das trifft das auf den Aggressor Russland in ungleich höherem Maße zu als auf den Verteidiger Ukraine, da in Russland die Selbstvergewisserung, ob das Land ein Imperium oder ein Nationalstaat sein solle, noch nicht zu einem Endpunkt gekommen ist.

Kriege wie die Folgekonflikte des Ersten Weltkrieges und der Jugoslawienkrieg waren ...