: Francis Fukuyama
: Der Liberalismus und seine Feinde
: Hoffmann und Campe Verlag
: 9783455014945
: 1
: CHF 9.90
:
: Gesellschaft
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
 Hat der Liberalismus noch eine Zukunft?  Die Demokratien stecken weltweit in der Krise. Militärischen Drohgebärden und der Spaltung der Gesellschaft haben sie scheinbar nichts entgegenzusetzen. Francis Fukuyama unterzieht unserem System einen Stresstest: Sind die Prinzipien des Liberalismus als Grundlage unseres Handelns noch zeitgemäß?   Corona-Einschränkungen, Hetze und Falschinformationen in den sozialen Medien, die aggressive Politik von Russland und China, populistische Führer im Westen: Der westliche Liberalismus erscheint heutzutage schwach und nicht in der Lage, unsere drängenden Probleme zu lösen. Dass er Menschen- und Bürgerrechte nicht ohne langwierige Prozesse einschränken mag, scheint heutzutage ein Nachteil zu sein. Man könne nicht alle Menschen gleich behandeln, heißt es dieser Tage von links wie von rechts, allerdings mit unterschiedichen Vorzeichen. Francis Fukuyama untersucht in seinem so kurzen wie prägnanten Buch, welche Werte ein echter Liberalismus vertreten muss, inwiefern der Neoliberalismus seinem Ansehen geschadet hat, und wie wir auf die Herausforderungen der Gegenwart antworten müssen, wenn wir unsere Freiheit nicht verlieren wollen.

Francis Fukuyama, geboren 1952 in Chicago, studierte Politikwissenschaft in Harvard. Sein 1992 veröffentlichter Bestseller Das Ende der Geschichte machte ihn international bekannt. Fukuyama ist einer der bedeutendsten politischen Theoretiker der Gegenwart. Er lehrte an der John-Hopkins-Universität, erhielt 2015 den Skytteanischen Preis und hat zahlreiche Bücher zur US-Politik veröffentlicht. Derzeit ist er Professor für Politikwissenschaft an der Stanford-Universität.

Vorwort


Mit diesem Buch will ich eine Verteidigung des klassischen Liberalismus vorlegen, oder, sollte dieser Begriff zu sehr historisch belastet sein, dann eben eine Verteidigung dessen, was Deirdre McCloskey als »humanen Liberalismus« bezeichnet.[1] Ich bin der Meinung, dass der Liberalismus heute überall auf der Welt sehr stark gefährdet ist. Früher mochte man ihn für selbstverständlich halten, doch heute müssen seine Tugenden aufs Neue klar dargelegt und hervorgehoben werden.

Mit »Liberalismus« beziehe ich mich auf die Lehre, die in der zweiten Hälfte des17. Jahrhunderts erstmals in Erscheinung trat. Sie setzte sich für die Begrenzung der staatlichen Herrschaft durch das Recht und letztlich durch Verfassungen ein und schuf Institutionen, die die Rechte derjenigen Menschen schützten, die in ihrem Geltungsbereich lebten. Ich meine ausdrücklichnicht den Liberalismus-Begriff, der heute in den Vereinigten Staaten als Bezeichnung einer Politik links von der Mitte dient und der sich, wie wir noch sehen werden, in entscheidenden Aspekten vom klassischen Liberalismus wegentwickelt hat. Ich meine auch nicht das, was in den Vereinigten Staatenlibertarianism (»Libertarismus«) genannt wird, denn dabei handelt es sich um eine besondere Doktrin, die auf einer feindseligen Einstellung gegenüber dem Staat als solchem gründet. Und ich gebrauche den Begriff auch nicht im europäischen Sinne, da er in Europa vor allem die Mitte-Rechts-Parteien bezeichnet, die dem Sozialismus skeptisch gegenüberstehen. Der klassische Liberalismus ist wie ein großes Zeltdach, das eine Bandbreite politischer Sichtweisen überspannt, die nichtsdestotrotz im Hinblick auf die grundlegende Bedeutung von individuellen Gleichheitsrechten, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit übereinstimmen.

Es ist offenkundig, dass sich der Liberalismus seit mehreren Jahren auf dem Rückzug befindet. Der Nichtregierungsorganisation Freedom House zufolge gewannen politische Rechte und bürgerliche Freiheiten in den drei Jahrzehnten zwischen1974 und den frühen2000er Jahren weltweit an Bedeutung. In den darauf folgenden rund15 Jahren bis2021 nahm ihre Bedeutung jedoch stetig wieder ab, ein Prozess, der als demokratische Rezession oder Regression bezeichnet wird.[2]

In den etablierten liberalen Demokratien sind es vor allem die liberalen Institutionen, die unmittelbar angegriffen werden. Politische Führer wie Viktor Orbán in Ungarn, Jarosław Kaczyński in Polen, Jair Bolsonaro in Brasilien, Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei und Donald Trump in den Vereinigten Staaten wurden alle legitim gewählt, benutzten aber ihr Wählermandat schon bei erster Gelegenheit dazu, liberale Institutionen zu attackieren. Dazu gehörten die Gerichte und das Rechtssystem, überparteiliche staatliche Behörden, unabhängige Medien und andere Körperschaften, die im Rahmen des Systems der Gewaltenteilung die Macht der Exekutive begrenzen. Orbán war sehr erfolgreich darin, die Gerichte mit seinen Gefolgsleuten zu beschicken und den größten Teil der ungarischen Medien unter die Kontrolle seiner Unterstützer zu bringen. Trump war weniger erfolgreich mit seinen Versuchen, die Intelligenzia oder Institutionen wie das Justizministerium, die Gerichte und die Mainstream-Medien zu schwächen, verfolgte aber ähnliche Absichten.

Der Liberalismus wurde in jüngster Zeit jedoch nicht nur durch rechtsgerichtete Populisten herausgefordert, sondern auch von der wiederauflebenden progressiven Linken. Die Kritik von dieser Seite beruht auf dem – an sich korrekten – Vorwurf, die liberalen Gesellschaften würden ihren eigenen Idealen hinsichtlich einer gleichen Behandlung aller Gruppen