: Dr. Franz Hartmann
: Die Mystik in Goethes Faust Eine Betrachtung
: epubli
: 9783756553136
: 1
: CHF 1.20
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: Spiritualität
: German
: 115
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Goethes 'Faust' ist die dramatische Darstellung eines ewigen Vorganges, der sich beständig in der Welt als großem Ganzen wie auch im einzelnen Menschen vollzieht. In allen Formen ringt der Geist Gottes nach Offenbarung, die Formen aber widerstehen. In Ewigkeit scheint das Licht in das Dunkel; doch das Dunkel vermag das Licht nicht zu begreifen, weil es ihm entgegengesetzt ist und weil nur das Gleiche sein Gleiches erkennen kann. Ob wir Faust, Mephistopheles, Gretchen als historische Personen oder als Symbole allgemein wirkender Kräfte betrachten, bleibt sich am Ende gleich; denn jeder Mensch ist nichts anderes als eine Personifizierung einer Summe von allgemeinen in der großen Natur wirkenden Kräften und ein äußerliches sichtbares Symbol von Eigenschaften, die an sich selbst unsichtbar sind.

Franz Hartmann (* 22. November 1838 in Donauwörth, Bayern; ? 7. August 1912 in Kempten (Allgäu)) war ein deutscher Theosoph, Freimaurer, Rosenkreuzer und Autor von esoterischen Werken.

 

 

 

I. Faust


Schon vor Jahrtausenden haben die ario-indischen Weisen gelehrt, die erste Bedingung zur vollkommenen Erkenntnis „Der Wahrheit“ sei die Fähigkeit, das Dauernde vom Nichtdauernden zu unterscheiden. »Nitya Anitya Vastu Viveka!« ruft Shankaracharya, und der deutsche Mystiker Thomas von Kempen spricht das Gleiche aus, wenn er sagt: »O käme der gekreuzigte Jesus in unser Herz, wie schnell und gründlich würde dann die Gelehrsamkeit unser Eigentum werden«. Diese Lehre wird aber nur von den wenigsten verstanden; am allerwenigsten von denen, die bereits gelehrt sind — oder es zu sein glauben —, weil sie das Dauernde, nämlich Jesus den Gottmenschen, der in ihrem Körper gekreuzigt ist, nicht kennen und auch nicht wissen, dass er ihr eigenes wahres und ewiges Selbst ist.

Die ganze Tragödie „Faust“ stellt dieses Ringen des Menschen nach wahrer Erkenntnis dar. Der Mensch sucht im Nichtdauernden und Vergänglichen nach dem, was dauernd oder ewig ist; er kann es nicht finden, weil nur das, was in ihm selber ewig ist, das Ewige erkennen kann; er sucht nach Der Wahrheit in äußeren Dingen und findet sie nicht, weil die Erkenntnis Der Wahrheit nur im eigenen Inneren zu erlangen ist, da alles Äußere nur Schein oder Gleichnis ist. Er sucht nach sich selbst in der Ferne und kann sich doch nur in sich selber finden. Wohl hat er eine Empfindung des Unendlichen in sich, aber er ist sich ihrer nur halb bewusst; er sucht das Unendliche mit seinem himmelstürmenden Intellekte zu fassen, aber es entflieht ihm, weil das Beschränkte die Unendlichkeit nicht in sich fassen kann. Mephistopheles gibt eine vorzügliche Schilderung des Menschen auf Erden, der auf verkehrte Weise nach Wahrheit sucht:

»Ihn treibt die Gärung in die Ferne;

er ist sich seiner Tollheit halb bewusst.

Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne

und von der Erde jede höchste Lust,

und alle Näh’ und alle Ferne

befriedigt nicht die tiefbewegte Brust.«

Diese Sehnsucht nach dem Unbekannten, dem Ewigen, die in der Brust eines jeden unverdorbenen d. h. nicht im Sumpfe des Materialismus versunkenen Menschen wohnt, ist aber gerade ein Beweis, dass in ihm selbst dieses Ewige und Unsterbliche wohnt, weil alle Anziehung durch die Einwirkung von Gleichem auf Gleiches entspringt, das Unsterbliche aber ihn nicht anziehen könnte, wenn nicht in ihm selbst Unsterbliches wäre. Intellektuell ist es allerdings nicht zu begreifen, weil der irdische Menschenverstand ebenfalls vergänglich ist.

So finden wir den Menschen in seinem Hirnkasten beschäftigt als „Faust“ in seiner engen Studierkammer, umgeben von Gelehrtenkram, Hirngespinsten und Wissensqualm, vergebens das Eine suchend, das allein des Wissens wert ist: nämlich Die Wahrheit. Nicht dass seine eigene Bildung nicht hinreichend wäre, nicht dass ein anderer, der noch gelehrter ist, es vielleicht besser verstünde; denn er hat den Gipfelpunkt alles irdischen Wissens erreicht, er hat Philosophie, Juristerei und Medizin und leider auch Theologie studiert; ihn plagen keine Skrupel noch Zweifel, er ist ja

»gescheiter als alle die Laffen

Doktoren, Magister, Schreiber und Pfeifen …«

sondern er