: Reingard Dirscherl
: Tägliches Befremden Erzählungen
: kurz& bündig Verlag
: 9783907126349
: 1
: CHF 11.60
:
: Erzählende Literatur
: German
: 144
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Tägliches Befremden | 16 Kurzgeschichten und Illustrationen der Autorin Es geht ums Fremdwerden und Ankommen, um alltägliche und merkwürdige Begegnungen und um die erstaunlichen Arten der Menschen, sich zwischen befremdenden Räumen und Zeiten zurechtzufinden. Manchen gelingt es, manche scheitern dabei. Nichts ist selbstverständlich. Fasziniert von den Schnittstellen, wo scheinbar Festes zu bröckeln beginnt und manches in Schräglage gerät, schreibt sich die Autorin durch ihre Geschichten. Wo Menschen sich anziehen und missverstehen, bricht Vertrautes auf. Der unerwartete Blickwechsel entdeckt Fremdes im Eigenen und Eigenes im Fremden. Die Kurzgeschichten spielen zu verschiedenen Zeiten im 20. und 21. Jahrhundert. Sie bewegen sich zwischen Systemen, Kulturen und Sprachen. Handlungsorte sind Städte in Europa sowie in Iran. Interkulturelle Begegnungen und Migration, aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt.

Studium der Ethnologie, Philosophie und Linguistik (lic. phil.). Sie ist als Journalistin und Erwachsenenbildnerin tätig. Sie lebte im Iran und im Osten der Türkei. Durch ihre langjährige Tätigkeit als Deutschlehrerin für Migrant*innen aus unterschiedlichsten Herkunftsgebieten kennt sie die Problematik der trans- oder interkulturellen Kommunikation sowohl aus der Praxis wie auch aus ethnischen und sozialen Perspektiven. In ihrer journalistischen und publizistischen Tätigkeit (u. a. für NZZ,DIE ZEIT, Weltwoche) standen die Themen, Kurd*innen, Islam, Migration, Kommunikation und Spracherwerb im Mittelpunkt.

Mein Opium

Le sang blanc coule épais du pavot de sa tête. Il le recueille à pleines mains. Et le sang rouge en bas lui trace les chemins au bout desquelles la mort à l’épouser s’apprête.1

Er sieht mitgenommen aus, der Katalog zuOpium. Die Texte sind mit Fragezeichen oder Pfeilen und Anmerkungen versehen. So wirken sie auf mich verlässlich. Für wichtige Zahlen baue ich Eselsbrücken und verankere sie so im Gedächtnis. Manchmal dient mir ein Spickzettel. Wie oft war ich im Museum und habe mir die Opiumpfeifen angesehen, da ich die Exponate im Ausstellungsführer nicht erkennen konnte. Fokussierende Schärfe auf ein Detail ist das Markenzeichen des Hausfotografen. Der Rest verschwimmt im Nebel. Die Aufnahme gestattet der Betrachterin nur einen Blick. Der zweite bleibt verwehrt und lockt so zu den Dingen. Um diese zu erkennen, genügt es nicht, sie abzubilden. Das Auge will schweifen. Der Geist will sich mit ihnen auseinandersetzen.

Neben dem Ausstellungskatalog liegt ein Roman über die Vorgeschichte der Opiumkriege in China. InDas mohnrote Meer beschreibt Amitav Gosh die Monopolisierung des indischen Mohnanbaus durch die East India Company. Ich notiere mir den NamenJardine& Matheson. Die britische Firma ist durch Opiumhandel und Zwangsarbeit reich geworden. Die Website des heute noch existierenden Unternehmens mit Sitz auf den Bermudas zeigt, dass es sich um einen weltweit tätigen Konzern handelt. Er verschiebt Autos, Schiffe, sogar Immobilien, nur kein Opium mehr. Zur Imagepflege fließen Gelder in wohltätige Zwecke. Ein Paradebeispiel, wie während des Kolonialismus erwirtschaftete Erträge postkolonial geschönt weiterwirken und Milliarden umsetzen.

Etwas später verwies mich die Geschichte über den Anbau von Opium in andere geografische Regionen. In Afghanistan fanden die Machenschaften um Einfluss und Gewinn im20. Jahrhundert ihre Fortsetzung. Die Opiumproduktion vor Ort soll während des Kalten Krieges durch dieCIA initiiert worden sein.2

Als ich mehr über die Pflanze wissen wollte, fand ich heraus, dass nährstoffreiche Lehmböden sich günstig auf ihr Wachstum auswirkten und weiße Samen den besten Ertrag lieferten. Im Botanischen Garten der Stadt sah ich dem Schlafmohn beim Wachsen zu.

Mohnöl bekam einen festen Platz in meiner Küche, und ich versuchte mich, dank eines Rezepts meiner Großmutter, an Mohnpotizen, einem Gebäck aus zerstoßenen Mohnsamen und Germteig. Beim Aufräumen auf dem Estrich stieß ich auf ein verstaubtes Gemälde. Meine Katze Poppy liegt auf einem vergessenen Grab. Ich drehte das Bild um und entzifferte meine eigene Schrift:Nur wer mit Toten vom Mohn aß, von dem ihren, wird nicht den leisesten Ton wieder verlieren.3 Rilke-­Fan mit einem Hang zum Frühgrufti, schmunzelte ich über meine einstigen Vorlieben und stellte das düstere Bild neben das Buch von Gosh.

Schließlich fragte ich einen Ex-Opiomanen über seine Abhängigkeit aus und verliebte mich. Ich folgte jeder Spur, die Opium gelegt hatte oder nach sich zog, und ließ mich sogar von einer Parfumverkäuferin im Globus mit der neuesten VersionBlack Opium von Yves St. Laurent besprühen. Zu Hause rieb ich mir den süßlichen Duft von Jasmin, Kaffee und Patschuli von der Haut.

Falls ich vergessen haben sollte, mich vorzustellen: Ich v