1. KAPITEL
Noch gut eine Stunde Arbeit lag vor ihr. Dann hatte sie es für heute geschafft. Erschöpft wischte sich Lilly den Schweiß von der Stirn und straffte sich. Um sie herum tobten Kinder hinter Strandbällen her, Eltern lagen in der Sonne oder unter bunten Sonnenschirmen im Schatten. Ein Schwimmer stand bis zur Hüfte im kristallklaren Wasser, und von links näherte sich eine Gruppe Jogger. Ein ganz normaler Morgen am Strand von Dafni.
Nirgendwo sonst wurde auf Zakynthos der Gegensatz zwischen Artenschutz und Tourismus deutlicher als hier. Während Urlauber die Sonne, das Meer und den goldenen Strand genossen, kämpften Mitarbeiter der Naturschutzorganisation um den Schutz der Schildkrötennester. In der Nacht kletterten die Meerestiere an Land und legten ihre Eier im warmen Sand ab. Bevor am nächsten Tag die Touristen kamen, mussten die Gelege geschützt werden. Das Problem war, dass die Eier meist unsichtbar unter Sand begraben lagen. Wenn ein Badegast seinen Sonnenschirm in genau solch ein Nest stieß, konnte dies das Ende für die Schildkrötenbrut sein. Deshalb markierten die Tierschützer die Gelege in der Nacht, indem sie die Schildkröten bei ihrer Eiablage beobachteten und danach kleine Eisengestelle zum Schutz darüberstülpten.
Zum Glück lag der wunderschöne Strand versteckt hinter Dünen und war nur durch eine holperige Landstraße zu erreichen. Dadurch hielten sich die Besucherströme einigermaßen in Grenzen. Heute waren jedoch für die frühe Stunde ungewöhnlich viele Besucher da.
Entschlossen machte sich Lilly wieder an die Arbeit. Sie hatte eine Nachtschicht hinter sich und war gerade dabei, die letzten Nester zu schützen. Zehn Uhr morgens, noch zwei Käfige, und dann hatte sie frei. Sie liebte ihren Job unter freiem Himmel, doch heute machten die frische Luft und die körperliche Anstrengung sie müde. Vielleicht waren aber auch die Überlegungen zur anstehenden Abendveranstaltung schuld daran, dass ihr die Handgriffe schwerer fielen als sonst. Sie würde nicht wie sonst auf ihrer Terrasse den Sonnenuntergang genießen können. Heute musste sie auf eine Spendengala für das neue Schildkrötenhospital.
Wenn Lilly etwas hasste, dann waren es derartige Events. Es gefiel ihr überhaupt nicht, um Geld zu bitten. Aber ohne die notwendigen Spenden konnten sie die alte Rettungsstation nicht umbauen. Sie hatte also keine andere Wahl.
Die Jogger waren mittlerweile näher gekommen. Sie hielten sich nahe der Wasserlinie, wo der Sand etwas fester war. Ab und zu erwischte sie eine Welle, sodass das Wasser hochspritzte.
Lilly blickte kurz zu den Sportlern auf. Sie kannte niemanden von ihnen. Doch dann fiel ihr Blick auf den hintersten Jogger, der mit etwas Abstand zum Rest lief. Er schien nicht zu der Gruppe zu gehören und blickte vor sich auf den Sand, offenbar tief in Gedanken.
Lilly erstarrte. Blinzelte. Nein, dachte sie.Das kann überhaupt nicht sein! Und doch … der Jogger sah jemandem sehr ähnlich, der ihr einst viel bedeutet hatte. Sehr viel. Sie hatte ihn seit Jahren nicht gesehen. Ihre letzte Begegnung war in England gewesen. Ein schrecklicher Tag, der sich für immer in Lillys Gedächtnis gebrannt hatte. Diese traurigen Augen. Verletzt. Bis tief in die Seele. Das war in einem anderen Leben gewesen. Vor einer Ewigkeit. Aber was sollte Oliver hier auf der griechischen Insel Zakynthos machen? Es war unmöglich! Dieser Sportler sah ihrem ehemaligen Freund nur ähnlich. Oder?
In dieser Sekunde blickte der Jogger hoch, als hätte er ihren Blick gespürt. Zunächst sah er prüfend zu den Läufern vor sich, dann wandte er den Kopf, schaute in Lillys Richtung. Als sich ihre Blicke trafen, wurde es Lilly ganz kalt. Diese Augen! Die hätte sie unter Tausenden wiedererkannt – hellblau wie der Himmel, mit einem dunkelblauen Kranz drum herum, von der Farbe eines tiefen Meeres. Der sanfte Blick wirkte jetzt müde, fast traurig.
Es gab keinen Zweifel.
Hastig senkte Lilly den Blick. Bloß nicht hochgucken! Ihr Herz klopfte wild. Sie hatte vor Schreck eine Gänsehaut bekommen. Das konnte doch nicht wahr sein! Es war unmöglich. Und doch … Lilly war sich absolut sicher.
Es war tatsächlich Oliver. Ihr Oliver, den sie mit blutendem Herzen in England hatte zurücklassen müssen. Den sie verraten hatte und der sie sicherlich hasste. Aber was machte er nur hier auf Zakynthos?
Hoffentlich hatte er sie nicht erkannt! Bitte, dachte sie verzweifelt, lass ihn einfach weiterlaufen.Lass ihn mich nicht entdeckt haben.
Da sie es nicht wagte, aufzublicken, konnte sie nur auf die Geräusche um sich herum lauschen. Die Gruppe war vorbeigelaufen, da war sie sich sicher. Und Oliver? War er stehen geblieben, oder war er ihnen gefolgt?
Mit heftig schlagendem Herzen blickte sie auf. Vorsichtig. Ganz la