Kapitel 1
Lass uns ganz am Anfang beginnen
Die eigene Position klären
Als Kind habe ich viele Methoden entwickelt, um das allabendliche Zeitfenster zwischen „Schlafenszeit“ und „tatsächlich müde“ zu füllen.
Ich lernte die Titelmusik vonChefarzt Dr. Westphall auswendig, einer Ärzteserie aus den Achtzigerjahren, die meine Eltern liebten und deren Ausstrahlung zufällig mit meiner Zubettgehzeit zusammenfiel. Die Tatsache, dass ich mich noch heute an die Titelmelodie erinnern kann, bedeutet wahrscheinlich, dass sie wegen mir die ersten paar Minuten ihres allwöchentlichen Dates mit der besten Serie des US-Senders NBC verpassten. (Wie Eltern vor der Erfindung des Videorekorders die Gute-Nacht-Routine ruhig hinter sich bringen konnten, wenn sie sich eigentlich schon ihre Lieblingsserie oder ein Fußballspiel anschauen wollten, ist mir ein Rätsel.)
Manchmal zählte ich (zum wiederholten Male) die Sternenkonstellationen der im Dunkeln leuchtenden Aufkleber an meiner Zimmerdecke.
Manchmal brachte ich mit einer Imitation irgendeines Schauspielers meinen Bruder zum Lachen, der auf der anderen Seite des Flurs schlief.
Manchmal spielte ich ein trickreiches Spiel, das ich selbst erfunden hatte: Ich streckte meinen Körper aus dem Bett, legte meinen Kopf auf den Boden, behielt aber meine Beine und Füße im Bett und befolgte damit technisch gesehen die Anweisung meiner Eltern, „keinen Fuß mehr aus dem Bett zu setzen, junge Dame“. Wenn ich versuchte, meinen Kopf immer weiter hinauszuschieben, entfernte ich mich manchmal zu weit von meinen eigenen Füßen und kippte wie eine umfallende Schubkarre mit Äpfeln auf den Boden. Und Gott steh dem Kind bei, das einen solchen Krach veranstaltet, während seine Eltern sich ihre Lieblingsserie anschauen.
Aber meistens lag ich nur wach da und versuchte zu begreifen, was „Ewigkeit“ bedeutet. (Gibt es da draußen noch andere Fünfjährige mit derart existenziellen Problemen? Ich bin die Einzige? Na toll.) Ich stellte mir die Zeit als eine lange, mit gelben Ziegelsteinen gepflasterte Straße vor, die sich wie ein endloses Band in beide Richtungen erstreckte – in die Endlosigkeit vor und nach meinem Leben – und nirgendwo begann und nirgendwo endete. Ich malte mir aus, dass ich diesen Weg so weit wie möglich in beide Richtungen entlangwanderte, links in die Vergangenheit und rechts in die Zukunft. Von ganz am Anfang bis ganz zum Ende. Und es beunruhigte mich zutiefst zu erkennen, dass ich mit all meiner Vorstellungskraft eine so große Realität nicht erfassen konnte.
Nirgendwo anfangen? Nirgendwo enden? Einfach …nirgends? Niemals?
Ich schickte meinen Verstand auf Wanderschaft, Millionen und Milliarden von Jahren durch die Zeit. Manchmal lief das Ganze wie ein Videofilm ab, der zurückgespult wird, weiter und immer weiter zurück in der Zeit, bis ich schließlich auf die schwarze Weite des Weltraums stieß – die Zeit, bevor irgendetwas existierte, bevor irgendetwas erschaffen wurde. Und in meiner Vorstellung fand ich dort Gott, der allein in der Dunkelheit saß und darauf wart