1 Turbodemokratismus und Unsicherheit
Warum die westlichen Demokratien von Krisensymptomen geplagt sind
Wenn Sie an die jüngere Vergangenheit zurückdenken, welche politische Entwicklung hat Sie persönlich besonders verstört? Die Flüchtlingskrise von 2015? Die folgende Welle von Rechtspopulismus und Ausländerfeindlichkeit, vielerorts in Europa, nicht nur in Deutschland? Die Verschiebungen im deutschen Parteienspektrum und insbesondere der unaufhaltsame Niedergang derSPD? Das Gewürge um den Austritt der Briten aus der Europäischen Union? Donald Trump und das tägliche Chaos, das aus dem Weißen Haus in den Rest der Welt vordringt? Die Einmischung der russischen Regierung in westliche Wahlkämpfe und unsere Meinungsbildung? Die latent weiterschwelende Eurokrise?
Dieses Buch ist der Versuch, gedankliche Ordnung in die neue Unordnung zu bringen. Wir kommen aus einer Ära der relativen Ruhe. Die Verhältnisse waren nicht perfekt, keinesfalls, aber sie schienen doch halbwegs stabil, in Deutschland sowieso, aber auch in Europa, im Westen und im großen Rest der Welt. Umso verstörender wirken jetzt all die Umbrüche um uns herum. Wohin führt das alles? Was kommt als Nächstes? Können wir etwas dagegen tun?
Wir leben in nervösen Zeiten. Politische Blockaden und lautstarke Konfrontation, spontane Massendemonstrationen und gewalttätige Proteste, internationale Verwerfungen und innereuropäischer Streit, dazu eine wacklige wirtschaftliche Lage und ein weitreichender technologischer Wandel – der Westen gibt wahrlich kein gutes Bild ab. Tagtäglich presst der endlose Nachrichtenstrom neue Erregungswellen in unser Bewusstsein. Ein Festival der Aufregung und Selbstdarstellung, aufgeführt von Figuren, deren persönliche Stabilität und Redlichkeit, also ihre prinzipielle Eignung für öffentliche Ämter, zumindest Fragen aufwerfen. Ganze Gesellschaften durchleben inzwischen wilde Stimmungsschwankungen. So entsteht der Eindruck, die Grundlagen unseres Zusammenlebens seien ins Rutschen geraten.
Unsicherheit ist das Lebensgefühl dieser Epoche. Was eigentlich überraschend ist. Denn in vielerlei Hinsicht ist das Leben heute so risikoarm wie wohl noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Doch der Kontrast zwischen persönlichem Erleben und öffentlichem Tumult ist so groß, dass hergebrachte Gewissheiten nicht mehr zu gelten scheinen. Unübersehbar werden die westlichen Demokratien von Krisensymptomen geplagt. Ihre Fähigkeit zur Selbststeuerung – und damit ihre Zukunftsfähigkeit – ist infrage gestellt.
Längst ist die Suche nach den Schuldigen im Gange. Wer ist verantwortlich für die Verfallsprozesse? Zu den üblichen Verdächtigen gehören: die Eliten in Politik, Verwaltung und Wissenschaft, die, inkompetent oder verblendet, auf jeden Fall selbstbezogen, so sehr mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie die große Mehrheit der einfachen Leute vergessen haben; die Topmanager in Großkonzernen und ihre gierigen Finanziers, die sich selbst die Taschen vollmachen und ansonsten um nichts und niemanden kümmern; die Populisten, die in den vergangenen Jahren in einem Land nach dem anderen mit Hass und Verschwörungstheorien die öffentliche Debatte vergiftet haben; die Journalisten, die, elitenhörig und faktenblind, Bilder einer nicht existierenden Realität zeichnen und, absichtlich oder schlicht ignorant, die Wahrheit verschweigen; soziale Medien wie Facebook, Twitter oder WhatsApp, die aus reiner Profitgier ganze Gesellschaften in Aufruhr versetzen und das Tor für Fake News und Propagandisten aus dem In- und Ausland öffnen, weshalb die Bürger nicht mehr zwischen Wahr und Falsch unterscheiden können. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.
Solche Schuldzuweisungen tragen nicht weit. Sie verschleiern die tiefer liegenden Ursachen eher, als dass sie sie erhellen. Die Prämisse dieses Buchs lautet: Wir sind Zeugen eines rapiden Strukturwandels der Politik. Dies