: Aladin El-Mafaalani
: Mythos Bildung Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft
: Verlag Kiepenheuer& Witsch GmbH
: 9783462320534
: 1
: CHF 10.00
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: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wer die Krise des Bildungssystems verstehen will, muss dieses Buch lesen.  In diesem grundlegenden Buch analysiert Aladin El-Mafaalani die Probleme und paradoxen Effekte des Bildungssystems, seine Dynamik und seine Trägheit. Eine umfassende Diagnose, ein Plädoyer dafür, soziale Ungleichheit im Bildungswesen endlich in den Fokus der Bildungspolitik und -praxis zu rücken. »Es geht um eine Verringerung von Chancenungleichheit, um die Erweiterung von Erfahrungshorizonten und Zukunftsperspektiven für alle Kinder und um die Vorbereitung der nächsten Generationen auf die unbekannten Herausforderungen einer zunehmend komplexer werdenden Gesellschaft. Nur darum geht es. Nicht mehr und nicht weniger.« Aladin El-Mafaalani Da die Schere durch die Coronakrise weiter aufgegangen ist, darf keine Zeit mehr verloren werden. Jetzt muss gehandelt werden. Wie, das sagt dieses Buch. Erweiterte Neuausgabe mit einem Zusatzkapitel zur Coronakrise.

Aladin El-Mafaalani, 1978 im Ruhrgebiet geboren, ist Professor für Migrations- und Bildungssoziologie an der TU Dormund. Nach dem Studium war er Lehrer am Berufskolleg Ahlen, dann Professor für Politikwissenschaft an der Fachhochschule Münster und später Abteilungsleiter im nordrhein-westfälischen Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration in Düsseldorf. Er studierte an der Ruhr-Universität Bochum Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Pädagogik und Arbeitswissenschaft und wurde dort in Soziologie promoviert. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt 2020 den Preis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie.

2. Humankapitalismus: Bildung als Ware und Währung


Bildung als Ware und Währung zu betrachten – das würden viele Menschen intuitiv ablehnen. Aber bereits Anfang der 1980er-Jahre hat der Soziologe Pierre Bourdieu genau hierzu eine Theorie entwickelt.[3] Es handelt sich also keineswegs um eine neue Sichtweise oder einen aktuellen Trend.

Das Kapital als rein ökonomische Ressource (Einkommen und Vermögen) zu begreifen, wie es noch bei Karl Marx definiert war, wird laut Bourdieu den vielfältigen wechselseitigen Austauschprozessen innerhalb einer Gesellschaft nicht mehr gerecht. Entsprechend definiert er Kapital als gesellschaftlich relevante Ressourcen, die imstande sind, die Stellung eines Menschen innerhalb der Hierarchie einer Gesellschaft zu bestimmen, zu erhalten oder zu verändern. Neben dem ökonomischen Kapital nennt er zwei weitere Sorten von Kapital, die vom Prinzip her gleichwertig sind: kulturelles Kapital (Bildung) und soziales Kapital (Netzwerke). Sie sind deshalb Kapital, weil sie gleichermaßen nützlich sein können. Und sie sind grundsätzlich gleichwertig, weil sie austauschbar sind, also die Funktion einer Währung haben können. Aber der Reihe nach …

Das klassische ökonomische Kapital garantiert nach wie vor die Sicherung des Lebensstandards und eine gewisse Unabhängigkeit. Allerdings reicht es allein nicht mehr aus, um gesellschaftliche Macht auszuüben oder bestimmte Positionen einzunehmen. So öffnet beispielsweise ein großer Lottogewinn keineswegs die Türen in die gehobenen Kreise oder in bestimmte Machtsphären. Zudem wissen wir heute, dass ein Lottogewinn bei zuvor ärmeren Menschen häufig nicht nachhaltig zu Wohlstand führt. Vielmehr sind es auch neue beziehungsweise wichtiger gewordene immaterielle Ressourcen, die die soziale Stellung mitbestimmen.

Das kulturelle Kapital könnte auch als Bildungskapital bezeichnet werden. Es drückt sich nach Bourdieu in Objekten (objektiviertes kulturelles Kapital), in Körper und Geist (inkorporiertes kulturelles Kapital) sowie in institutionalisierter Form (institutionelles kulturelles Kapital) aus. Objektiviertes kulturelles Kapital ist dabei am engsten an Geld gebunden. Hierzu zählt insbesondere der Besitz von Kunstgegenständen (beispielsweise ein Gemälde), Kulturgütern (beispielsweise Bücher) und Kulturwerkzeugen (beispielsweise ein Klavier), die zwar materielle Objekte sind, aber deren Wert vordergründig immaterieller Natur ist – die also auf gewisse Weise Bildung beziehungsweise Gebildetsein vorführen. Und mal ehrlich: Wenn wir jemanden zu Hause besuchen und im Wohnzimmer ein wohlplatziertes Kunstgemälde, Hunderte Bücher im Regal und einen Flügel sehen, steht für uns schon (fast) fest: Dieser Mensch ist gebildet.

Die Verinnerlichung dieser Objekte erfordert, dass ich sie mir einverleibe. Inkorporiertes kulturelles Kapital meint die sich stetig vollziehende Aneignung, also die geistige, körperliche und emotionale Verinnerlichung des Kulturellen. Es geht um Wissen und Fähigkeiten, heute würde man von Kompetenzen sprechen, wobei nicht nur kognitive, sondern auch soziale, emotionale und methodische Fähigkeiten gemeint sind. Wenn nun unser Gastgeber auch noch kunstinteressiert und belesen wirkt, vielleicht sogar auf dem Flügel etwas vorspielt und dabei zwischendurch einen Schluck Rotwein trinkt – dann ist die bildungsbürgerliche Aura vollkommen.

Die Verinnerlichung des Kulturellen ist die zeitintensivste Ausprägung der kulturellen Kapitalformen und findet insbesondere, aber nicht nur im Bildungssystem statt. Klavier spielen etwa hat unser Gastgeber sicherlich nicht auf dem städtischen Gymnasium gelernt.

Das Hoheitsgebiet des Bildungss