STERBEN
Und dann wird dir zum ersten Mal im Leben klar: Unter deinen Händen stirbt ein Kind.
Ich versuche, mich zurückzuerinnern. Wann war das? Als junger Arzt, auch im Rahmen der Ausbildung, wird man etliche Male mit dem Tod konfrontiert. Du siehst kleine Patienten, die sterben, tote Kinder, aber du fühlst dich für ihren Tod nicht verantwortlich. Sie sterben, aber sie sterben nichtdir. Du arbeitest im Team, du stehst in der zweiten Reihe, und wenn es kritisch wird, kommt der alte, erfahrene Oberarzt und übernimmt. Wenn das Kind stirbt, steht da vorne der Oberarzt.
Du bist zwar dabei, du siehst das Sterben, aber du stehst weiter hinten, du lässt es nicht so nah an dich heran. Kannst du auch gar nicht. Du bist noch viel zu jung dafür. Du würdest es nicht aushalten.
Ein totes Kind, ja. Aber da sind doch noch die anderen, die um dich stehen, die vor dir stehen. Weg! Verdrängen! Weg mit dem Tod! Ein junger Arzt zieht einen Schutzwall um sich herum, er will mit dem Tod nichts zu tun haben. Er sagt sich: Tod, das ist doch nicht das, weshalb ich Mediziner geworden bin. Das ist doch nicht meine Aufgabe. Ich bin schließlich nicht Pathologe geworden. Meine Aufgabe ist es, Menschen zu heilen, Menschen ins Leben zurückzuholen, Kinder zu retten. Ich bin Arzt. Lebensarzt. Nicht Totenarzt. Ich will Leben retten, weg mit dem Tod.
Der Tod kommt nicht vor.
Ich war 25 Jahre alt. Es war in Bozen. Im Sommer 1978. Ich hatte mein Medizinstudium beendet, auf der Station meine ersten Praktika gemacht. Ich war auf der Kinderinfektionsabteilung, wo wir mit einer schlimmen Epidemie zu kämpfen hatten. Eine Infektionskrankheit grassierte in Südtirol, die mehrere Kinder angesteckt hatte. Die Kinder wurden nach Bozen verlegt. Alles Neugeborene.
Die Situation war außergewöhnlich, schlagartig wurde mir in diesem Sommer bewusst, wie schnell Kinder sterben können. Kinder, die am Abend zuvor zwar krank, aber noch aktiv gewesen waren. Sie hatten Fieber, hingen am Tropf, aber sie lebten.
Am nächsten Tag waren sie tot.
Ich hatte mir einen Schutzmechanismus aufgebaut. Weil ich jung war. Weil ich unerfahren war. Wenn ich heute daran zurückdenke, bin ich mir sicher, dass ich es ohne diesen Schutzmechanismus nicht geschafft hätte. Die damalige Oberärztin war eine große Hilfe für mich. Sie hat mich viel gelehrt. Sie hat mich auch gelehrt: Manche Kinder dürfen sterben.
Drei Kinder sind damals innerhalb weniger Wochen gestorben. Wir konnten sie nicht retten, hatten keinerlei Möglichkeit.
Der Tod gehört zu unserer Arbeit.
Sie hatte mich so viel gelehrt, diese Ärztin: wie man sich einem Kind annähert, wie man es beobachtet, ganz anders als einen Erwachsenen. Sie hatte mich oft gefragt: Wie siehst du heute dieses Kind? Sie wollte keine Daten erfahren, keine Auswertungen. Sie fragte einfach, was ich beobachtet hatte. Wie das Kind auf mich wirkte. Als junger Arzt willst du untersuchen: Bauch abtasten, Lunge abhorchen, Herz prüfen. Aber sie fragte: Was hast du beobachtet? Leidet das Kind? Hat es Schmerzen? Welche Bedürfnisse hat es? Und forderte mich auf: Zieh deine Schlussfolgerungen daraus. Sie riss mich aus dem Tunnel der medizinischen Systematik heraus. Die Herangehensweise dieser Frau weckte die Begeisterung für den Arztberuf in mir. Das kann man an der Universität nicht lernen.
Genauso wenig wie den Umgang mit dem Tod.
Ein Kind ist tot.
Schutzmechanismus. Eine Mauer. Vielleicht war auch Zynismus Teil dieser Mauer. Vorgetäuschte Coolness, so tun, als ob einen das alles kaltließe.
Ja, das kann sein.
Vielleicht musste es sein.
Es gab diese drei Kinder, die ich sterben sah. Das war das erste Mal, dass ich mit dem Tod eines Menschen konfrontiert wurde, vom Sterben der Großeltern einmal abgesehen.
Ich erinnere mich an den Tod meiner Großmutter mütterlicherseits und an den Tod des Großvaters väterlicherseits. Ich war noch ein Kind. Grundschüler. Das Sterben der Alten gehörte ins Leben. Der Tod der Großelt