: Michael Cox
: Umschaltspiel Die Evolution des modernen europäischen Fußballs
: Suhrkamp
: 9783518765081
: 1
: CHF 21.00
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: Sport
: German
: 540
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Der Fußball, heißt es, schreibt die unglaublichsten Geschichten. Höchste Zeit also für eine unglaublich gute Geschichte des Fußballs. Michael Cox erzählt sie ab dem Jahr 1992, als die Änderung der Rückpassregel und die Einführung der Champions League den Sport veränderten und einen weiteren Professionalisierungsschub auslösten.

Cox zeichnet nach, wie die großen europäischen Fußballländer mit ihren Clubs und Nationalmannschaften jeweils eine Zeit lang dominierten, bis die Konkurrenz ihren Erfolgscode knackte und die Evolution weiter vorantrieb. José Mourinhos abgezockte Abwehrmaschinen, Pep Guardiolas Kurzpass-Tiki-Taka, das Gegenpressing und Umschaltspiel von Jürgen Klopp - Cox porträtiert die prägenden Figuren dieser knapp drei Jahrzehnte und erklärt ihre taktischen Neuerungen.Und er erinnert an legendäre Spiele, etwa an den Moment, als der portugiesische Nationaltorwart Ricardo im EM-Viertelfinale 2004 plötzlich seine Handschuhe auszog, den letzten Elfmeter der Engländer hielt und den entscheidenden selbst verwandelte.



<p>Michael Cox ist ein englischer Fußballjournalist. Sein revolutionärer Taktikblog www.zonalmarking.net war ein Vorbild für deutsche Seiten wie www.spielverlagerung.de. Cox schreibt für The Athletic.</p>

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Individuum oder Kollektiv?


Als im Sommer1992 die fußballerische Moderne anbrach, beherrschte der niederländische Stil den europäischen Fußball. Unter der Leitung von Johan Cruyff, der die Schule desVoetbal totaal wie kein anderer verkörperte, hatte derFC Barcelona gerade den Europapokal der Landesmeister gewonnen, und Ajax Amsterdam hatte im Pokal der Pokalsieger triumphiert. Obendrein hatte Ajax in der niederländischen Liga starke Konkurrenz: Der Meistertitel war anPSV Eindhoven gegangen, den Pokal hatte Feyenoord Rotterdam geholt.

Bei derEM1992 gelang es Holland zwar nicht, den vier Jahre früher errungenen Europameistertitel zu verteidigen, aber Oranje spielte bei der ansonsten bedrückend defensiven Endrunde einen mitreißenden, schön anzusehenden Offensivfußball. Auch der herausragende Spieler Europas kam aus den Niederlanden – der Goldene Ball ging an Marco van Basten, und sein Angriffspartner in der Nationalmannschaft, Dennis Bergkamp, belegte bei der Wahl den dritten Platz.

Die Niederlande verdankten ihre fußballerische Vormachtstellung jedoch nicht bestimmten Mannschaften oder einzelnen Spielern, sondern einer eigenen Vorstellung vom Spiel, und die niederländischen Mannschaften – oder die von niederländischen Trainern wie Cruyff betreuten Mannschaften – warben derart erfolgreich für diese Philosophie, dass die klassische niederländische Interpretation des Spiels allgemein als Ausgangspunkt des modernen Fußballs gilt.

Als der »totale Fußball« das Spiel in den siebziger Jahren revolutionierte, wurde der neue Stil oft als Ausdruck der Amsterdamer Lebensart dargestellt. Die niederländische Hauptstadt war ein Zentrum der gesellschaftlichen Toleranz, ein Mekka für Hippies aus ganz Europa, und die Amsterdamer Mentalität schien sich auch im Fußball niederzuschlagen, der in dieser Stadt und darüber hinaus gespielt wurde. Die Spieler von Ajax und der Elftal waren auf dem Platz anscheinend nicht an eine bestimmte Position gebunden und durften offenbar nach Lust über das Feld schweifen, um frei von taktischen Fesseln einen mitreißenden, attraktiven Fußball darzubieten.

In Wahrheit war das niederländische System vollkommen durchorganisiert: Die Spieler tauschten die Positionen ausschließlich vertikal; wenn sich ein Verteidiger in den Angriff einschaltete, musste sich ein Mittelfeldspieler oder ein Stürmer in diesem Streifen des Spielfelds zurückfallen lassen, um ihn abzusichern. Während die Spieler also theoretisch Bewegungsfreiheit hatten, hatten sie in der Praxis ständig über die Pflichten nachzudenken, die sich aus den variierenden Positionen ihrer Mitspieler ergaben. In einer Zeit, in der die Stürmer in anderen europäischen Ländern oft von taktischen Zwängen befreit waren, hatten die Angreifer von Ajax Amsterdam und der Elftal stets ihre Funktion im taktischen Schema im Hinterkopf. Arrigo Sacchi, dessenAC Mailand Ende der achtziger Jahre den Europapokal beherrschte, beschrieb es treffend: »Es hat in Wahrheit nur eine taktische Revolution stattgefunden, und zwar als sich der Fußball von einem individuellen zu einem kollektiven Spiel wandelte. Das geschah bei Ajax.« Seit damals tobt im niederländischen Fußball eine philosophische Debatte: Soll der Fußball entsprechend der stereotypischen Vorstellung von der niederländischen Kultur individualistisch sein, oder soll er systematisch sein wie in der Interpretation der klassischen Vertreter des »totalen Fußballs«?

Mitte der Neunziger kamen diese beiden Positionen in der Rivalität zwischen Johan Cruyff, dem Aushängeschild desVoetbal totaal und Trainer desFC Barcelona, und Ajax-Coach Louis van Gaal zum Ausdruck, der einen eher prosaischen Weg zum Erfolg suchte. Beide Trainer waren Verfechter des klassischen Ajax-Modells, was Ballbesitz und die technische Ausbildung der Spieler anbelangte, aber während Cruyff davon überzeugt war, dass man den Stars die Möglichkeit geben musste, sich auf dem Feld frei zu entfalten, predigte van Gaal den Vorrang des Kollektivs. »Van Gaal arbeitet noch strukturierter als Cruyff«, beobachtete ihr gemeinsamer Mentor Rinus Michels, der in den siebziger Jahren das legendäre Ajax-Team und die holländische Nationalmannschaft betreut hatte. »In van Gaals System ist weniger Spielraum für Positionswechsel und die spontane Nutzung von Möglichkeiten. Der Spielaufbau wird bis ins kleinste Detail perfektioniert.«

Die niederländische Interpretation von Führung ist ein bisschen komplex. Die Niederländer sind stolz auf ihre Offenheit und ihre Diskussionskultur, was, übertragen auf das Fußballfeld, bedeutet, dass die Spieler manchmal ein Mitspracherecht in Fragen haben, die anderswo dem Trainer vorbehalten bleiben. Beispielsweise sorgte Cruyff im Jahr1973 mit seiner Entscheidung für Aufsehen, von Ajax Amsterdam zumFC Barcelona zu wechseln. Bei Ajax wurde der Mannschaftskapitän nicht vom Verein bestimmt, sondern von den Spielern gewählt, und Cruyff war zutiefst gekränkt, als seine Mitspieler ihn abwählten. In Anbetracht des gewaltigen Einflusses, den Cruyffs Ankunft auf das Spiel von Barça haben sollte, stellte dies eine umwälzende Entscheidung dar, die aus der Anwendung klassischer niederländischer Prinzipien resultierte.

Niederländische Spieler sind daran gewöhnt, Einfluss auf die taktischen Entscheidungen des Trainers zu nehmen. Louis van Gaal erklärte das Ajax-System so: »Wir bringen den Spielern bei, das Spiel zu lesen, wir bringen ihnen bei, wie Trainer zu denken […]. Trainer und Spieler diskutieren und kommunizieren miteinander. Hat der Trainer der Gegenseite eine gute Taktik gewählt, so sehen sich die Spieler auf dem Feld an, wie die gegnerische Mannschaft vorgeht, und finden eine Antwort.« Während die Spieler in vielen anderen Ländern instinktiv die Anweisungen des Trainers befolgen, gibt es in einer niederländischen Mannschaft unter Umständen elf unterschiedliche Meinungen über die beste Taktik, was teilweise erklärt, warum es in der holländischen Nationalmannschaft bei Turnieren regelmäßig zu Streitereien kommt: Die Spieler werden stets ermutigt, ihre Meinung zur Taktik zu sagen. Das führt zwangsläufig zu Meinungsverschiedenheiten, und einig werden sich die Spieler der Elftal am ehesten, wenn es darum geht, den Trainer zu stürzen.

Michels, der Vater des »totalen Fußballs«, entwickelte ein »Konfliktmodell« und förderte abweichende Meinungen, indem er in der Kabine Diskussionen zwischen den Spielern provozierte. »Ich wandte manchmal bewusst eine Konfrontationsstrategie an«, gestand er nach dem Ende seiner Trainerkarriere. »Ich wollte ein Spannungsfeld erzeugen, um den Teamgeist zu fördern.« Michels räumte vor allem ein, dass er stets die »Schlüsselspieler« provozierte, und wenn der berühmteste Trainer eines Landes offen zugibt, dass er Streit zwischen seinen besten Spielern schürte, kann es kaum überraschen, dass spätere Spielergenerationen der Meinung waren, Streitlust sei durchaus begrüßenswert.

Diese Neigung zum Verfechten der eigenen Meinung führt dazu, dass niederländische Spieler auf Außenstehende oft arrogant wirken, und das ist eine weitere Vorstellung, die mit der Stadt Amsterdam verbunden wird. Cruyff bezeichnete die ursprünglichen Vertreter desVoetbal totaal in der Ajax-Mannschaft der siebziger Jahre als »Amsterdamer von Natur«, und seine Landsleute werden unmittelbar verstehen, was er damit meint. Ruud Krol, der beste Verteidiger der Mannschaft, erklärte es so: »Unsere Art zu spielen war typisch für Amsterdam – arrogant, aber eigentlich nicht wirklich arrogant, dieses großspurige Auftreten und die Art, die Gegenseite herunterzumachen und zu zeigen, dass wir besser waren als sie.« Dennis Bergkamp hingegen erklärt, in den Niederlanden sei es »verpönt, eingebildet zu...