KAPITEL 1
Eine Dickens’sche Kindheit
Das Mädchen «sieht aus wie George III. in einem Kleid». Lady Grenvilles Vergleich der dreijährigen Victoria mit deren Großvater war alles andere als schmeichelhaft. George III. galt seinen Zeitgenossen als ein ausgesprochen unattraktiver Mann, der nicht nur die amerikanischen Kolonien, sondern auch seinen Verstand verloren hatte. Seine Familienverhältnisse waren so zerrüttet wie seine Nerven. Bereits im luziden Zustand bekämpfte er die Mehrzahl seiner fünfzehn Kinder. Vor allem seine Söhne beschimpfte er regelmäßig als faule und amoralische Geschöpfe. Sie bestätigten seine Einschätzung, indem sie mit der Opposition kokettierten und Schulden anhäuften. Die Familie war bereits auseinandergefallen, als bei George III. erstmals die Stoffwechselkrankheit Porphyrie ausbrach. Seine Wutausbrüche verwandelten sich nun in schubartig auftretende Wahnattacken. In dem berühmt gewordenen Theaterstück «The Madness of GeorgeIII» zeigt Alan Bennett, wie der König verzweifelt gegen seine Krankheit ankämpft, während seine Söhne auf das Erbe spekulieren. Bennett stellt George III. als eine Art King-Lear-Figur dar, die umgeben ist von einer undankbaren Brut. Nur seine deutsche Ehefrau hält Cordelia-gleich zu ihm. In Wirklichkeit gab auch die Königin ihren Mann mit der Zeit auf. Sie weigerte sich, mit ihm weiter zusammenzuleben, und konzentrierte sich auf Finanzgeschäfte – ihr Portfolio entwickelte sich ausgesprochen erfolgreich.
Victoria lernte früh, dass sie aus einer dysfunktionalen Familie kam. Zeit ihres Lebens war sie der festen Überzeugung, sie habe eine traumatische Kindheit erlebt. Ihrer ältesten Tochter beschrieb sie, wie unglücklich sie gewesen sei: «Keinen Auslauf für meine starken Gefühle und Zuneigungen, keine Brüder und Schwestern, mit denen ich leben konnte (…) kein intimes und vertrauensvolles Verhältnis mit meiner Mutter (ganz anders als zwischen Dir und mir), auch wenn ich sie jetzt liebe.»
Victoria wurde im Laufe ihres Lebens eine begeisterte Romanleserin. Auch wenn sie ihre frühen Jahre kaum mit dem harten Schicksal von Charles Dickens’ Figuren vergleichen konnte, so hätte sie doch zu Recht behaupten dürfen, dass ihre Kindheit ungewöhnlich melodramatisch verlaufen war. Ihren Vater Edward, Herzog von Kent, hatte sie nie bewusst kennengelernt. Kent war in seinem Leben selten etwas gelungen. Als vierter Sohn Georges III. hatte er von Anfang an einen geringen Status innerhalb seiner Familie gehabt. Er galt als das unbeliebteste Kind und wurde frühzeitig in die Armee abgeschoben. Als offensichtlich wurde, dass sein Vater nicht mehr regierungsfähig war, übernahm 1811 der älteste Bruder – der spätere George IV. – die Prinzregentschaft. Diese Zeit des «Regency» dauerte bis 1820 und leitete eine kulturelle Blüte in Großbritannien ein. Regency-Häuser und -Möbel sind bis heute an Eleganz nicht zu übertreffen. Von Zeitgenossen jedoch wurden der bauwütige Prinzregent und seine Brüderschar vor allem als Sinnbild des Lasters wahrgenommen. Die ganze englische Gesellschaft schien mit diesen Royals an der Spitze in einem Morast zu versinken. Und der Herzog von Kent war aktiver Bestandteil dieses Morasts. Zwar scheinen seine vielen Mitgliedschaften in Wohltätigkeitsorganisationen und sein Interesse an Reformern wie Robert Owen Belege für seine humane Seite zu sein. Doch Kent war vor allem ein extrem cholerischer Mann, der sich in der Armee mit Gewalttaten einen Namen gemacht hatte. Dies war insofern eine Leistung, als im britisch