1. KAPITEL
Was ist mit Deborah los?“, fragte Phoebe Palmer, die in der Mitte einer Suite in Miss Emma Wade Boylans „Pensionat für höhere Töchter“ stand. Der Salon war üppig mit Fransenbesatz, Perlenverzierungen und Brokat ausgestattet. Spitzenbesetzte Unterröcke und mit Bändern verzierte Unaussprechliche lagen durcheinander auf Diwanen und Ottomanen. „Sie will noch nicht einmal ihre Zofe zu sich lassen“, fügte Phoebe hinzu.
„Ich werde nachsehen, was sie aufhält.“ Lucy Hathaway stieß die Tür zum angrenzenden Zimmer auf. Deborahs Kleid, das sie letzte Nacht in Aikens Opernhaus getragen hatte, lag zusammengeknüllt in einem Haufen aus Tüll und Seide auf dem Boden. Zerwühlte Laken bedeckten das Bett und der Duft von teurem Parfüm und von Verzweiflung hingen in der Luft.
„Deborah, geht es dir gut?“, erkundigte sich Lucy leise. Sie ging zum Fenster, teilte den Vorhang, um etwas von dem schwindenden Tageslicht hereinzulassen. In der Ferne zeichneten sich die höheren Gebäude und Türme von Chicago vor dem Abendhimmel ab. Der Himmel war durch den Rauch und Ruß der Fabriken in der Farbe von schmutzigem Bernstein gefärbt. Aber hier bei Amberley Grove, einem vornehmen Vorort von Chicago, in dem sich die Schule befand, versprach der windige Abend angenehm zu werden.
„Deborah, wir liegen dir schon seit Stunden in den Ohren, dich endlich fertig zu machen. Kommst du heute Abend nicht mit uns?“, hakte Lucy nach. Obwohl die Veranstaltung schlicht als Lesung aus der Heiligen Schrift angekündigt war, wussten alle, dass das nur ein Vorwand für die gute Gesellschaft war, sich zu treffen. Obwohl nicht auszuschließen war, dass wichtige spirituelle Themen diskutiert werden würden, würde auch Oberflächlicheres wie Klatsch und Romanzen nicht zu kurz kommen. Das heutige gesellschaftliche Zusammenkommen besaß eine zusätzliche Dramatik, eine Tatsache, die schon die ganze Woche lang die Gerüchteküche anheizte. Der unwahrscheinlich begehrenswerte Dylan Kennedy war auf Brautschau.
„Bitte, Liebes“, sagte Lucy. „Du machst mir Angst, und mir macht so leicht nichts Angst.“
Unter ihrer Decke auf dem Bett zusammengerollt konnte Deborah einfach nicht die Worte finden, um ihre Freundin zu beruhigen. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie ihr Leben vor vierundzwanzig Stunden noch gewesen war. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wer sie war, schrieb die Puzzlestücke von sich, die ihr einfielen, im Geiste untereinander, wie Posten in einem Rechnungsbuch. Ein geliebtes Einzelkind. Verlobte des begehrtesten Junggesellen von Chicago. Eine privilegierte junge Frau, vor der ein wunderbares Leben lag.
Letzte Nacht war das alles eingestürzt und zerbrochen, und si