Donnerstag, 23. Oktober
Martina Falkner war erst gegen Morgen in einen unruhigen Schlaf gefallen, durch den wilde Träume geisterten. Immer wieder war ihr das Gesicht des Toten erschienen, zu einer Fratze verzerrt, die sie anbleckte und irgendwann schweißgebadet hochfahren ließ. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie sich befand, dann gewöhnten sich ihre Augen an das Dunkel und nahmen die vertrauten Umrisse ihres Schlafzimmers wahr. Der Digitalwecker zeigte zwei Uhr fünfunddreißig.
Sie schwang die Beine aus dem Bett und erhob sich, immer noch völlig benommen von dem Alptraum. Ihr Mund war wie ausgedörrt, sie brauchte jetzt dringend etwas zu trinken. Schlaftrunken tapste sie über den Flur. Als sie an der Tür zu Hendriks Arbeitszimmer vorbeikam, stutzte sie. Die Tür war einen Spaltbreit geöffnet, ein schwacher Lichtschimmer drang auf den Flur. Arbeitete ihr Vater etwa noch? Sie stieß die Tür auf, aber der Stuhl vor dem Schreibtisch war leer. Die kleine Lampe neben dem zusammengeklappten Notebook war heruntergedimmt, und als sie sie ausstellen wollte, fiel ihr Blick auf die Computermaus, die auf einem Mousepad mit dem SchriftzugFBI lag, das Hendrik bei einem Lehrgang in Quantico als Abschiedsgeschenk erhalten hatte. Das Mausrad leuchtete blau, ein Zeichen, dass das Notebook nicht heruntergefahren war.
Martinas Herz begann zu rasen, ihr Mund wurde noch trockener. Wie hypnotisiert starrte sie auf das Notebook und war sich der Chance, die sich hier gerade bot, mehr als bewusst. Hendrik hatte sich mit Sicherheit in den aktuellen Fall verbissen und versuchte jetzt Zusammenhänge zu dem ersten Tötungsdelikt herauszufinden. In solchen Zeiten konnte ihr Vater auch nachts nicht abschalten und hockte häufig stundenlang vor dem Computer, in der Hoffnung, der Lösung näher zu kommen. Offensichtlich hatte ihn jetzt aber doch die Müdigkeit übermannt, und er war zu Bett gegangen. Aber warum hatte er dann das Notebook angelassen?
Auf Zehenspitzen schlich sie in den Flur zurück und näherte sich mit äußerster Vorsicht Hendriks geschlossener Schlafzimmertür. Sie legte ihr Ohr an das Holz und malte sich für einige schreckliche Sekunden aus, dass Hendrik im nächsten Moment die Tür aufreißen und sie ertappen würde. Aber nichts dergleichen geschah, nur ein gleichmäßiges und tiefes Schnarchen war zu vernehmen.
Tu es, feuerte Martina sich innerlich an, diese Chance bekommst du nie wieder. Pfeif auf die Skrupel, versuch herauszufinden, was es mit den beiden Fällen, die Hendrik und sein Team jetzt bearbeiten, auf sich hat. Vielleicht findest du etwas, womit du ihnen weiterhelfen kannst. Sehr witzig, tönte da eine Stimme in ihr, eine fiese und ziemlich gemeine Stimme, ausgerechnet du kleines Licht wirst den entscheidenden Hinweis finden. Selten so gelacht.
Martina straffte die Schultern. Nein, sie war kein kleines Licht. Sie war intelligent und hatte ihre Ausbildung mit Bestnoten abgeschlossen. Selbst ihr Bärenführer, der nie ein Wort zu viel gesagt, geschweige denn einmal ein Lob von sich gegeben hatte, hatte bei der Verabschiedung gemeint: »Deern, aus dir wird noch mal was.« Dieser Satz war ihr mehr wert gewesen als alle Lobhudeleien, die sie von ihren Ausbildern zu hören bekommen hatte.
Es dauerte nur wenige Sekunden, das Notebook neu zu starten. Martina hatte sich auf die äußerste Kante des Schreibtischstuhls gehockt, bereit, jederzeit aufzuspringen, falls irgendein Geräusch ihr signalisieren sollte, dass Hendrik aufgewacht war und zurückkam.
Eine Excel-Tabelle sprang ihr ins Auge. In der obersten Reihe waren in Fettdruck zwei Namen nebeneinander vermerkt: Klaus Harmsen und Raimund Egner. Darunter zwei Todesdaten: 14. Oktober und 21. Oktober. In den Zeilen darunter war notiert, auf welche Weise Harmsen ums Leben gekommen war und was das K1 bisher zusammengetragen hatte. Die Angaben bei Egner waren noch sehr spärlich.
Beim hastigen Durchblättern weiterer Dateien stieß sie auf Hendriks Vermutung, dass für die beiden Tötungsdelikte möglicherweise ein und dieselbe Person verantwortlich zeichnete, aber einen direkten Hinweis, dass dem wirklich so war, fand sie nicht.
Sie überlegte fieberhaft. Es würde dauern, bis sie das ganze Material durchgearbeitet hätte. Jetzt war dafür keine Zeit, denn d