1. Was ist die Seele, Herr Kernberg? –
»Otto, Du Arschloch!«. Erlebnisse eines alten männlichen Kängurus
Manfred Lütz: Professor Kernberg, Sie behandeln seelische Erkrankungen. Was ist die Seele für Sie?
Otto Kernberg: Für mich ist die Seele alles, was der Mensch erlebt, was er als etwas von ihm stammend erkennt, Gedanken, Wünsche, Fantasie, Erinnerungen, Gefühle, Pläne, moralische Einstellungen, Ideale …
Aber gibt es sie wirklich? Kann man sie fassen? Man hat sie ja mal im Zwerchfell lokalisiert oder im Gehirn …
Die Seele ruht auf biologischen Voraussetzungen, auf Gehirnstrukturen und Neurotransmittern, die in einem gegebenen Moment die Fähigkeit zeigen, zu fühlen. Also wir fühlen, und gleichzeitig entdecken wir im Laufe der Zeit, dass wir es sind, die da fühlen, dass dieses Gefühl nur uns gehört. Unser Gehirn hat aber die Fähigkeit, nicht nur innere Gefühle zu erkennen, sondern auch die äußere Realität, und zwar durch Sinnesorgane: Augen, Ohren, Nase, Mund, Haut. So bekommen wir einen Eindruck von der Welt, die uns umringt, und gleichzeitig erkennen wir, dass wir eine innere Welt haben, die auf Gefühlen basiert. Gefühle sind die grundlegenden Aspekte der Seele, auf die sich dann Beziehungen mit anderen Menschen aufbauen, realistische und fantastische, gute und böse. Und so erleben wir dann zwar uns selbst als von allen anderen unterschieden, zugleich aber erleben wir uns von vorneherein in Beziehung zu anderen wichtigen Personen unseres Lebens, sodass wir von einer inneren Welt umringt sind, die zu unserer Seele gehört.
Dann würden Sie sagen, es gibt gar nicht die vereinzelte Seele, sondern es gibt eine Seele eigentlich nur in Beziehung.
Genau, das meine ich. Ich gestehe Ihnen, ich interessiere mich sehr für die biologischen Grundlagen der Entwicklung der Seele und für mich ist faszinierend, dass das Gehirn so gestaltet ist, dass wir schon genetisch den Drang oder die Versuchung spüren, die Welt um uns herum kennenzulernen und zu unterscheiden, was wir sind und was die für uns wichtigen anderen sind. Das heißt also, schon biologisch sind wir auf eine soziale Welt ausgerichtet. Das ist eine der interessantesten Erkenntnisse der Hirnforschung. Es ist also eine kreative Entwicklung, die vom Biologischen zum Seelischen führt, und dieses Seelische entwickelt sich dann weiter in tiefere Beziehungen zu anderen, in Veränderungen unserer selbst als eine Konsequenz aus diesen tiefen Beziehungen, in die Entwicklung des Verstehens für diese anderen, damit diese Beziehungen gut, gerecht, schön und wahr sein können. Also ausgehend von biologischen Grundlagen entwickelt sich eine rein innerpsychische Realität, die sich in sich selbst weiterentwickelt und schließlich zu Wertsystemen, philosophischen und religiösen Einstellungen führt.
Warum braucht man Psychotherapie? Jahrtausendelang ging es auch ohne sie.
Ich weiß nicht, ob das stimmt. Psychotherapie als eine Behandlungsmethode, das natürlich ist eine moderne Entwicklung. Aber es gab aus meiner Sicht schon Psychotherapie von allem Anfang an. Es wurde nur nicht mit dem Namen Psychotherapie bezeichnet. Es begann mit magischen Einstellungen gegenüber Menschen, die irgendwie nicht normal erschienen, die Probleme hatten, die psychisch litten, die, wie wir heute sagen würden, depressiv waren, unrealistische Angst zeigten und bei denen reifere, mit Intuition begabte Menschen als verstehende und beratende Freunde halfen …
Dass ein Gespräch eines Freundes in einer Krise einem Menschen helfen kann, das hat es sicher immer sch