: Christoph Möllers
: Freiheitsgrade Elemente einer liberalen politischen Mechanik
: Suhrkamp
: 9783518763773
: 1
: CHF 22.00
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: Politische Soziologie
: German
: 343
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Freiheitsgrade kennt man aus der Mechanik. Der Begriff bezeichnet dort die Zahl der Richtungen, in die ein Körper sich an einem Gelenk bewegen kann. Bei seinem Versuch, den Liberalismus auf die Höhe der Zeit zu bringen, geht Christoph Möllers weder von der politischen Großwetterlage aus noch vom Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft. Vielmehr versucht er, Formen einer Ordnung herauszupräparieren, die Bewegungsfreiheit und soziale Varianz ermöglicht. So gerüstet, verspricht er keine Antworten, aber neue Perspektiven auf diverse Phänomene: auf den Begriff der politischen Repräsentation, aber auch die Funktion territorialer Grenzen. Freiheit, so Möllers, ist eine Praxis der Ergebnisoffenheit, die Prozesse ermöglicht, von denen unklar sein muss, wohin sie führen.



<p>Christoph Möllers, geboren 1969, lehrt Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.</p>

1.1 Überlieferte Widersprüche


2. Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für den Liberalismus. Die Geschichte des Liberalismus ist voller eigenartiger Zuschreibungen. »Liberalismus« wurde erst im Anschluss an die Französische Revolution zum Namen einer politischen Richtung, und zwar einer, die die Revolution weder fortführen noch umkehren wollte.6 Liberalismus als eine Schule der politischen Theorie zu bezeichnen7 oder aus einem vorrevolutionären Naturrechtler wie John Locke einen Liberalen zu machen8 sind Vorstellungen frühestens des späten 19. Jahrhunderts. Vor dieser Theorie entstand die liberale Historiografie, die Geschichtsschreibung immer klar als Anwalt in eigener Sache, als »Willensverstärker« der eigenen politischen Überzeugungen betrieb.9 Eine erste Variante eines politischen »neuen Liberalismus« entstand als Reaktion auf den starken Individualismus der Vorgängerdoktrin und trat für staatliche Regulierung und allgemeines Wahlrecht ein. Heute ließe sich diese Richtung als sozialdemokratisch bezeichnen. Später wurde dieses Label durch einen zweiten kapitalistischen Neoliberalismus vergessen gemacht, der freilich seinerseits unterschiedliche Strömungen kennt.10 Die Formel von den »liberalen Demokratien« entstand nach dem Aufkommen des Antiliberalismus der Zwischenkriegszeit.11 Auch die Vorstellung, Liberalismus sei etwas Angelsächsisches, ist ein historisches Artefakt. Ludwig von Mises beklagte in den zwanziger Jahren die sozialistischen Tendenzen des angelsächsischen Liberalismus,12 während Herbert Marcuse nur ein paar Jahre später gerade Mises als typische Figur des zeitgenössischen autoritären Liberalismus hervorhob, der den Nationalsozialismus ermöglicht habe.13 Für den deutschen Liberalen Friedrich Naumann war der Kampf der Nationalliberalen des Kaiserreichs gegen Sozialisten und Katholiken der politische Sündenfall. Sein eigener, gemeinschaftlich gesinnter Vorschlag für einen Grundrechtskatalog der Weimarer Reichsverfassung stieß aber auch unter Linksliberalen auf Ablehnung und nur bei Carl Schmitt auf Zustimmung.14

Es ist wichtig, zumindest einige dieser Volten der Begriffsgeschichte zur Kenntnis zu nehmen, auch wenn dies nicht auf einen historisch korrekten Gebrauch der Bezeichnung verpflichten sollte. Es steht jeder Theorie frei, ihren eigenen Begriff von Liberalismus zu konstruieren und alte Denkfiguren für eine heutige Anwendung auszubeuten, weiterzuentwickeln oder zu verwerfen. Politisch ist es ohnehin zulässig, sich theoretischer Lager hemdsärmelig zu bedienen.15 Aus dem Blick in die Geschichte des Begriffs folgen selten handfeste Zurechnungen zu politischen Entwicklungen, insofern überfordert sich die moderne Geschichte des Liberalismus, wenn sie diesen für alles Mögliche verantwortlich macht und daraus gar noch konkrete politische Einsichten ziehen will.16 Doch lehrt die Historiografie zumindest, dass die Behauptung, der Liberalismus sei eine ungebrochene Tradition, die es einfach fortzusetzen oder aufzugeben gelte, nicht zu halten ist.17 John Dewey stellte fest, eine der Stärken des alten Liberalismus habe darin gelegen, unhistorisch zu sein und dadurch Traditionen zu überwinden, später sei er jedoch selbst dieser Gefahr erlegen und zur Tradition geworden.18

3. Chancen einer widersprüchlichen Tradition. Als liberal werden also verschiedenste Doktrinen bezeichnet, die sich nicht auf einen systematischen Nenner bringen lassen.19 Das muss kein Schaden sein, in dieser Vielfalt könnte politisch eine Stärke liegen. In jedem Fall hat es keine andere politische Theorie im 20. Jahrhundert auf einen solchen Reichtum begrifflicher Unterscheidungen gebracht wie der Liberalismus, namentlich im Umkreis der Theorien von John Rawls,20 nicht der Konservativismus, nicht der Nationalismus, nicht der Kommunitarismus oder der Sozialismus, die in ihren anspruchsvolleren Varianten allesamt von liberalen Theorien gelernt haben.21 Freilich produziert theoretische Komplexität politischen Bedeutungsverlust. Die Theorie erhält ihren Eigenwert, weil sie sich nicht ideologisch reduzieren lässt, umgekehrt wollen sich genuin politische Theorien auf praktische Irrelevanz nicht einlassen und wählen daher die Schlichtheit etwa der konservativen Literatur.22 Jede Weiterentwicklung liberaler Theorien wird sich wegen dieser Komplexität nicht einfach auf Schlagwörter wie »Freiheit« oder »Individuum« berufen können – und alle liberale Politik wird zumindest die Nachfrage provozieren, was genau an ihren Slogans liberal sein soll.

4. Hat der Liberalismus eine Theorie der Freiheit? »Der Liberalismus akzeptiert nicht einfach die Freiheit. Der Liberalismus nimmt sich vor, sie in jedem Augenblick herzustellen.«23 In vielen als liberal bezeichneten Theorien spielt Freiheit nur eine zweitrangige Rolle. Vorläufer wie Spinoza, Hobbes und Hume glaubten nicht an die Freiheit des Willens, sondern verfolgten verschiedene Varianten eines Kausaldeterminismus, den sie mit einer Konzeption äußerer Freiheit zu verbinden suchten. Spinoza schreibt: »[M]enschliche Freiheit besteht lediglich darin, daß sich die Menschen ihres Wollens bewußt und der Ursachen, von denen sie bestimmt werden, unbewußt sind.«24 Daraus folgt aber nicht die Irrationalität aller Handlungen. Hobbes erkennt den Sinn von Beratung und Debatte auch unter der Geltung der Kausalgesetze an: »[W]enn bestimmt ist, dass eine Sache einer anderen gegenüber ausgewählt werden soll, dann ist auch bestimmt, aus welcher Ursache sie ausgewählt wird, eine Ursache, die zumeist in Verhandlung oder Beratung liegt. Deswegen ist Beratung nicht vergeblich.«25 Hier entspricht Freiheit physischer Bewegungsfreiheit, die an der Bestimmtheit der Ursachenwelt nichts ändern kann. Für die Altliberalen ist Freiheit ein aus der Antike kommendes Recht auf gleiche Beteiligung an der politischen Gemeinschaft,26 kein Anspruch auf einen privaten Raum außerhalb der Politik. Montesquieu versteht Freiheit als Abwesenheit von Despotie.27 Bei Mill dient Freiheit als Mechanismus, der die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt steigern kann, sie ist kein Selbstzweck, sondern Instrument zur Verbesserung kollektiver Zustände. Umgekehrt werden nicht alle Theoretiker, für die Freiheit systematisch zentral ist, ob zu Recht oder zu Unrecht (→65), als liberal eingeordnet, etwa Rousseau, Hegel28 oder Hannah Arendt.29 Bei Kant, dessen Nähe zu Rousseau in Deutschland gern verheimlicht wird, muss man genau hinschauen und sich fragen, in welchem Sinne seine Rechts- und politische Philosophie als liberal gelten können. Immerhin trifft in ihr das allgemeine Gesetz den Einzelnen mit bemerkenswerter Unerbittlichkeit.30

Manches von seinem unklaren Verhältnis zur Freiheit verdankt sich der historisch intimen, aber systematisch nicht zwingenden Beziehung des Liberalismus zum Utilitarismus.31 Ein Beitrag zu einem empirisch ermittelbaren gesamtgesellschaftlichen Nutzen, wie ihn der Utilitarismus anstrebt, ist etwas anderes als eine Ordnung der Freiheit.32 In utilitaristischen Modellen können Berechnungen eines gesamtgesellschaftlichen Nutzens individuelle Freiheit konsumieren.33 Mill stellt in seiner Schrift zum Utilitarismus fest, dass einer Anhängerin seiner Lehre der eigene Nutzen nicht näher stehen dürfe als derjenige der anderen.34 Die Utilitaristin muss stets an das Ganze denken, im Ergebnis also mehr an die anderen als an sich selbst. Utilitarismus ist damit ohne Freiheit der Einzelnen denkbar. Doch wäre die liberale Tradition ohne den Utilitarismus kaum wiederzuerkennen. Vielleicht werden deswegen sowohl unter Liberalen als auch unter den Kritikern des Liberalismus Freiheit und effiziente Wohlfahrtsvermehrung so oft miteinander verwechselt.

5. Eigensinn oder Vernunft: Was ist die Mutter liberaler Rationalität? Hinter liberalen Theorien liegen unterschiedliche Vorstellungen von Rationalität. Mit Humes Theorie verbindet sich ein Konzept von Zweckrationalität, das rationale Aussagen...