1
Früher
»Und wenn der Tag der Verdammnis kommt – und er wird bald kommen, da könnt ihr gewiss sein, ihr nichtswürdigen Schafe – dann solltet ihr euch alle fragen, ob ihr dem Herrn allzeit wohlgetan habt! Denn mit Seinem göttlichen Hammer wird Er die strafen, die in Seinem Angesicht gesündigt haben. Er wird sie mit Seiner nassen Hand zerschmettern und in die tiefsten Abgründe der Hölle schicken, auf dass sie ihr sündhaftes Leben bis in alle Ewigkeiten, bis ans Ende aller Zeiten bereuen! Hört ihr den Sturm, hört ihr Ihn?! Jawohl, das ist Er, der Einzige und Ewige! Er ruft euch! Und nur die, die ein Leben in Keuschheit und Demut vor Ihm gelebt haben, können Seinen Erzengeln entfliehen! Nur die, die Seinen Namen und den Seines Sohnes gepriesen, die ihr Leben nach Seinen strengen, aber gerechten Regeln gelebt haben, können auf Seine Gnade hoffen! Alle anderen wird das Meer in einer gewaltigen Woge hinwegspülen und auf den dunklen, kalten Grund der See hinabziehen! Also, tut Buße, ihr alle, tut Buße, jetzt!«
Die Balken im Dachstuhl knirschten und krachten. Nervös blickte die junge Frau in der dunklen Sonntagstracht nach oben. Der heftige Sturm, der draußen über der Marsch tobte, ließ die kleine Kirche bis in ihre Grundfesten erzittern. Blitze erleuchteten die Heiligenfiguren im Altar in grellen Farben. Der heilige Bonifatius, der heilige Severin, der heilige Martin, ja, der heilige Gottvater selbst, sie alle schauten streng auf sie und die anderen Männer, Frauen und Kinder herunter, die sich hier zum Gottesdienst versammelt hatten und voller Angst der Predigt lauschten.
Sie mochte Pastor Hermanns Predigten nicht. Wieso nur musste er immer mit fürchterlichen Strafen und der Hölle drohen? War das Leben denn nicht schon hart genug? Warum musste er ihnen solche Angst machen?
Sie betrachtete die anderen Dorfbewohner, die sich an diesem dunklen Tag zur Messe versammelt hatten. Die harte Arbeit auf den Feldern, der tägliche Kampf gegen die Urgewalten, gegen Kälte, Wind und die stürmische See, hatten tiefe Spuren in ihren Gesichtern hinterlassen. Sie sah den alten Schroeder, der sein Leben lang Schafe gezüchtet hatte. Wenn er mit seinem langen Stock zwischen seinen Tieren auf dem Feld stand, sah er aus wie eine der schiefen Birken, vom Westwind gebeugt.
Neben ihm saß Bauer Heiner mit seiner Frau Agnetha, die bei der Sturmflut von 1857 nicht nur ihren Hof, sondern auch zwei ihrer Kinder an den Blanken Hans verloren hatten. Agnetha, eine Schwedin, die Heiner auf dem Markt in Schleswig kennengelernt hatte, hatte seitdem kein Wort mehr gesprochen.
Sie blickte zur alten Trine. Ihr ganzes Leben hatte sie nur hinter dem Spinnrad gesessen. Ihre Hände, die sich jetzt angstvoll in das Gesangbuch krallten, waren voller Schwielen und Narben vom scharfen Garn. Ihre vom grauen Star getrübten Augen blickten ergeben zur Kanzel hinauf. Neben der Alten saß ihr Sohn Volker, dessen Augen im Gegensatz zu denen seiner fast blinden Mutter wie blaue Sterne leuchteten. Er war einer der Fischer des Dorfes. Das Salzwasser hatte ihm mittlerweile auch die letzten Haare vom kantigen Schädel gewaschen. Die Hände waren von der Arbeit mit den Netzen gezeichnet und von dicker Hornhaut überzogen. Zwei Finger fehlten; sie waren ihm vor vielen Jahren abgerissen worden, als sein Netz sich in einem Riff verfangen hatte, draußen vor der Tiefen Senke. Die Strafe für sein unzüchtiges Leben, wurde im Dorf gemunkelt. Sie hatte nie herausgefunden, warum, denn Volker lebte immer noch bei seiner Mutter und war fast jeden Tag alleine auf See.
Wieder ließ ein heftiger Donner die Kirche erzittern. Putz rieselte von der hohen Decke, die Kerzen auf dem Altar flackerten. Mehnert, der Bürgermeister, und Goedeke, der alte Schulmeister, blickten sich in der ersten Reihe nachdenklich an. Dahinter sah sie Mütter, die besorgt ihre Kinder an sich drückten, welche mit großen, ängstlichen Augen zu den im Sturm klirrenden Fenstern starrten.
»Und es kam ein anderes Ross daher, feuerrot, und dem, der auf ihm saß, wurde gegeben, den Frieden hinwegzunehmen von der Erde und dass sie einander hinschlachten, und es wurde ihm ein großes Schwert gereicht …«
Ein lauter Knall unterbrach den Pastor und ließ die Gemeinde zusammenfahren. Alle drehten sich erschrocken um: Der Wind hatte die Tür aufgeschlagen. Sofort brauste der Sturm wie ein unheimlicher Gast in die Kirche und blies einen Großteil der Kerzen auf dem Altar aus. Ein paar Kinder schrien erschrocken auf, während die Dorfbewohner zu de