: Walter Erhart
: TEXT + KRITIK 241 - Hans-Ulrich Treichel
: edition text + kritik
: 9783967079357
: TEXT + KRITIK
: 1
: CHF 25.50
:
: Sprach- und Literaturwissenschaft
: German
: 102
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Einfühlungsvermögen und historische Genauigkeit - im melancholischen Ton kreisen Treichels Erzähler um Alltag, Sorgen und Verstörung im Nachkriegsdeutschland. Hans-Ulrich Treichel (geb. 1952) gehört zu den wichtigsten Autoren der deutschen Literaturgeschichte nach 1989; sein Roman 'Der Verlorene' (1998), Welterfolg, Bestseller und (Schul-)Klassiker, übersetzt in über 25 Sprachen, gilt als einzigartige Erzählung über die psychosozialen Verwerfungen der deutschen Nachkriegsgeschichte. Mittlerweile ergeben Treichels Romane eine Art Psychogramm der bundesdeutschen Gesellschafts- und Intellektuellengeschichte; sein literarischer Stil changiert zwischen Sprachvirtuosität, Melancholie und Heiterkeit, insbesondere die ironische Selbstreflexion seiner Figuren hat den 'Treichel-Sound' berühmt gemacht. Als Professor am Leipziger Literaturinstitut hat Treichel zahlreichen Autorinnen und Autoren das literarische Schreiben gelehrt, als Literaturwissenschaftler sich um das Werk Wolfgang Koeppens verdient gemacht. Das eigene Werk umfasst neben Prosa zahlreiche Gedichtbände, Reisebeschreibungen, autobiografische Skizzen, Essays zum literarischen Schreiben und zur modernen Literatur.

Walter Erhart ist Professor für germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte sind deutsche Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Literaturtheorie, Wissenschaftsgeschichte, Reiseliteratur sowie Gender Studies.

Kerstin Preiwuß

Und plötzlich wird ein Autor sichtbar


Es geht um Hans-Ulrich Treichel, doch um welchen Treichel geht es mir? Um den Treichel, der der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft ihre Wurzeln vor Augen hielt, etwa anhand der Erbgutuntersuchung der Eltern im »Verlorenen«? Um den Treichel, der den Mehltau einer solchen Kindheit und Jugend zu schildern wusste wie auch den Mangel darunter? Um den Treichel, der sich Identität vom Leibe hält, indem er sie erfindet? Um den Treichel der frühen Prosa, der es mithilfe seiner Figur auf der Couch der Westberliner Psychoanalyse liegend verstand, nicht nur der Psychoanalyse die Gesellschaft vorzuhalten, sondern auch der Gesellschaft die Psychoanalyse, in tragikomischer Vollendung? Drei bis vier Generationen währt das Familiengedächtnis, und auch, wenn man es nach Westberlin geschafft hat, ist der Weg zurück zu den Wurzeln kurz und die BRD möglicherweisenoir. Dann doch lieber jener Treichel, der einem lakonisch vorführt, dass auch der Weg zurück zu den Wurzeln nicht unbedingt zu Näheerlebnissen verhilft. Das Dorf der Vorfahren ist nicht erreichbar, weil es falsch geschrieben worden ist. Und selbst, als der Protagonist »Anatolin« endlich erreicht, bleiben seine paar Häuser für den Westeuropäer ohne Resonanz. Ernüchterung ist nicht der schlechteste Umgang angesichts der kulturellen Hypothek, die die deutsche Perspektive auf diebloodlands bis heute belastet. Oder doch der Treichel, mit dem ich ab und an über Raumgeografie sprach, der meine Begeisterung für Karl Schlögels bahnbrechendes Werk »Im Raume lesen wir die Zeit«1 teilte, und der dann meinte, dass Lemberg eine Reise wert sei?

Das allein wäre schon einen Text wert, aber darum soll es hier nicht gehen. Stattdessen möchte ich einen Vorschlag aufgreifen, den der Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel einmal in einem Artikel äußerte. »Und plötzlich wird ein Autor sichtbar« heißt dieser Text, den er 2016 veröffentlichte, fast am Ende seiner Professur am Literaturinstitut in Leipzig.2

Sofort denke ich an Gespräche über Autorschaft und autobiografisches Schreiben und die Aufgabe zeitgrammatischer Tempora, die Ge- und Entspanntheit von Sprache abzubilden, und ob ein Prosatext nun im Präsens oder im Präteritum zu schreiben sei. An die fortwährende Beobachtung der Welt mit den Mitteln der Selbstwahrnehmung aus dem Blickwinkel eines an Montaigne geschultenhomme de lettres. Autor, denke ich, und wie Hans-Ulrich Treichel einmal erzählt hat über seinen Aufenthalt in der Villa Massimo, als der Lyriker vorerst nur wusste, dass er erzählen wollte, und was das für die eigene Autorschaft bedeuten kann, wenn diese schon allein im Schreibimpuls begreifbar wird, sich, wie es in Roland Barthes Vorbereitung des Romans heißt, im intransitivenSchreiben äußert, einer »Schreibsubjektivität«, die sich unabhängig vom »›etwas schreiben‹ […] um einer SACHE willen« macht:»Ich schreibe, indem ich im Schreibvorgang selbstauf mich einwirke.«3 Das wusste einen zu beruhigen, weil es der Autorschaft auch in ihrem Puppenstadium schon die Selbstverständlichkeit mitgab, nicht nahm.

Doch darum geht es gar nicht. Es geht nicht um Autorschaft, sondern um Wissenschaft. Lakonisch setzt der Text mit einer Suche im Opac der Universität Bielefeld oder auch Leipzig ein und ste