1 Archaische und klassische Leidenschaften
Die Archaik und die Klassik des antiken Griechenland gehören in Bezug auf die Leidenschaften mitsamt ihrer Bedeutung, ihrem Wert und ihrem Erleben zu den am besten erforschten Zeiten. Ein Großteil der Forschung fokussiert auf die Literatur und Philosophie dieser Epochen: ergiebige Quellen mit weitreichendem Einfluss.1 Es kann hier also keine umfassende Darstellung erfolgen, ebenso wenig, wie irgendeine andere Epoche vollständig behandelt werden kann. Stattdessen habe ich eine Auswahl getroffen, die beispielhaft für die Komplexität und Fremdheit der antiken griechischen Leidenschaften stehen soll – in Bezug darauf, wie sie beschrieben, aber auch wie sie erlebt wurden (insoweit wir hierzu überhaupt Vermutungen anstellen können).2 Ich betrachte vier »Emotionen«, die oberflächlich betrachtet vertraut und unkompliziert erscheinen: Wut, Angst, Scham und Glück.
Anhand von HomersIlias, Thukydides’ (460–400 v. Chr.)Peloponnesischem Krieg und Aristoteles’ (384–322 v. Chr.)Nikomachischer Ethik will ich zeigen, dass diese bloßen Etikette – Wut, Angst, Scham, Glück – in Bezug auf das, was im Griechischen damit gemeint ist, mehr verschleiern, als sie enthüllen. Zu Beginn beziehe ich mich zwar auf diese vertrauten Emotionsbegriffe, aber ich werde zeigen, dass sie nur mit Vorsicht