Kapitel 1
Der verspottete Rabe
Im Januar 1930 reiste der Wiener Ökonom Felix Somary nach Heidelberg, um an der dortigen Universität einen Vortrag über die Aussichten für die Weltwirtschaft zu halten. Somary war einer der angesehensten Analysten seiner Zeit. Wann immer eine Krise drohte, suchten Minister, Zentralbankdirektoren und Wirtschaftsführer – von der Wiener Familie Rothschild bis zu Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht und dem sozialdemokratischen Finanzminister Rudolf Hilferding – seinen Rat. Er nannte sich einen „politischen Meteorologen“ und arbeitete als Partner in der kleinen Privatbank Blankart& Cie. in Zürich. Seine finanzielle Unabhängigkeit erlaubte es ihm, offen seine Meinung über die Lage der Dinge zu äußern.1
Seine Freunde in Heidelberg wollten wissen, ob der aktuelle Börsenkrach an der Wall Street der Beginn einer ernsthaften Rezession in Europa sei. Somary hatte den Schwarzen Donnerstag (24. Oktober 1929) in New York erlebt, als der Markt an einem Tag 10 Prozent seines Werts verlor. Er war von dem Zusammenbruch des Vertrauens alarmiert gewesen und hatte seinen Partnern in Zürich sofort telegrafiert: „Haltet Klienten vom Markt fern. Krise ist erst im Beginn.“ Noch schockierter war er von den Vorgängen in Europa einen Monat später. Binnen weniger Wochen wurde die Bodencreditanstalt, Österreichs zweitgrößte Bank, insolvent, und die Banque de Bruxelles, die zweitgrößte belgische Bank, musste wegen des Börsenkrachs einen großen Teil ihrer Aktivposten abschreiben.2
Somarys Botschaft in Heidelberg war düster: „Ich bin … der Ansicht, daß die Novemberereignisse die Einleitung zur schwersten seit einem Jahrhundert erlebten Krise bedeuten, die Einleitung nur, den ersten Akt und daß wir nicht in Wochen, auch nicht in Monaten, sondern erst in Jahren daraus herausko