: Dirk Liesemer
: Streifzüge durch die Nacht Wie ich unsere Heimat neu entdeckte
: Piper Verlag
: 9783492996389
: 1
: CHF 13.10
:
: Deutschland
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Weshalb ist die Nacht seit jeher eine Projektionsfläche unserer Ängste und Wünsche, für Märchen und Geschichten? Und warum zieht uns die Dunkelheit so magisch an? Dirk Liesemer wagt sich ein Jahr lang immer wieder in die Einsamkeit der Nacht. Er erkundet das Westhavelland, die dunkelste Region Deutschlands, ebenso wie das Ruhrgebiet, eine der hellsten Gegenden Europas. Er verfolgt die Weißen Nächte auf Usedom, wandert zu später Stunde während des Opernballs durch Wien und besteigt in der Schweiz einen Berg, um die Schwärze der Nacht kennenzulernen. Dabei trifft er Märchensammler und Astronomen, Jäger, Esoteriker und Vogelkundler - und berichtet über Lichtverschmutzung, den Tanz der Glühwürmchen und die Stille unter dem Sternenhimmel.

Dirk Liesemer, geboren 1977, studierte Politik und Philosophie in Münster und Rennes, Frankreich. Er besuchte die Henri-Nannen-Journalistenschu e in Hamburg und arbeitete als Redakteur in Berlin und München. Heute ist er als freiberuflicher Autor für diverse Magazine, u.a. mare, Free Men's World und Spiegel tätig und schreibt vor allem über Geschichte, Natur und Gesellschaft. Für Recherchen war er außerdem in Tunesien, Ruanda und Kenia, in Weißrussland und der Ukraine, im Kosovo und in Italien unterwegs und reiste per Anhalter über den Balkan. Von ihm erschienen bereits die Bände 'Lexikon der Phantominseln' und 'Aufstand der Matrosen. Tagebuch einer Revolution'.

Bevor ich mich aufmachte


Früher, in meiner Kindheit, wenn ich spätabends auf der Wiese vor unserem Haus stand und zum Himmel emporschaute, funkelte und blinkte es überall magisch wie zu Anbeginn der Zeit. Ich wusste, wo der Polarstern leuchtet, wo Orion und Kassiopeia zu finden sind, welche Mondphase als nächste kommen würde und dass sich alles über einem dreht, wenn man nur lange genug das Firmament betrachtet. Der Blick ins dunkle Universum weckte meine Fantasie. Alles war so weit, so schwarz, so offen. Ich liebte die Stille und die Weite des funkelnden Nachthimmels, aber fühlte mich im Angesicht des Weltraums auch verdammt klein.

Ich fürchtete mich zugleich vor der Nacht. Direkt hinter unserem Haus begann ein dichter großer Wald aus Fichten und Tannen. Nachts knackten dort Äste, es raschelte im Laub, Füchse und Rehe trieben sich im Gehölz umher, vermutlich auch Wildschweine. Allein wagte ich mich nicht allzu weit in diese unbekannte, finstere Welt hinein. Ich hatte nicht unbedingt Angst, aber doch allerlei wilde Vermutungen und Hirngespinste, was mir dort widerfahren könnte. Zumal wir Kinder im Wald einmal eine rostige Bärenfalle entdeckt hatten.

Diese Dinge fielen mir wieder ein, als ich mich vor einigen Jahren, mit Ende dreißig, für ein Abenteuermagazin zu einer Nachtwanderung ins Havelland aufmachte. Es war kein in einer Redaktion ausgeheckter Auftrag gewesen, sondern ging auf einen Vorschlag von mir zurück. Nachts im Havelland bemerkte ich schon in der späten Dämmerung, wie sehr ich die Nacht im wahrsten Sinne des Wortes aus den Augen verloren hatte. Dabei machen die dunklen Stunden immerhin die Hälfte eines vollen Tages aus. Im Grunde hatte ich keine Ahnung mehr, wie man sich im Dunkeln orientiert, was um einen herum so alles passiert und welche Tiere welche Geräusche von sich geben. Ich tapste eher hilflos durch die Gegend und fühlte bedrückt, dass ich mich von der Nacht entfremdet hatte.

Je dunkler es an jenem Abend im Havelland wurde, desto deutlicher spürte ich allerdings auch ein angenehmes, elektrisierendes Kribbeln im Körper: Ich war unterwegs, ich war draußen, ich erlebte etwas Neues und fühlte mich dabei ganz wach – denn ich tat gerade etwas, was ich sehr lange nicht mehr gemacht hatte. Es war ein wenig wie ein erstes Mal. Es hatte wieder den Hauch des Besonderen. So betrat ich also eine weithin unbekannte, in Vergessenheit geratene Welt: das Reich der Dunkelheit. Dass ich von dieser Welt so viel vergessen hatte, empfand ich dabei allmählich immer mehr als eine ideale Voraussetzung, mich ausführlicher mit ihr zu beschäftigen. Zumal ich bald erfuhr, wie gefährdet die Dunkelheit mittlerweile ist – nicht nur in Mitteleuropa.

Man kann diese Art der Themenfindung als zufällig begreifen. Mir gefällt ein anderes Wort besser: Serendipity oder auch Serendiptität. Man streunt umher, folgt der Nase, hält die Augen auf und stößt irgendwann so absichtslos wie zufällig auf dieses oder jenes Thema, von dem man zuvor gar nicht wusste, dass es existiert und einen fesseln könnte. Manchmal beginnt dann eine Geschichte mit einem Wort, einem Gedanken, einer Empfindung oder einer Beobachtung. Mit irgendeinem unscheinbaren Fundstück also, das man am Weg aufliest und so lange im Kopf hin und her wendet, bis daraus mehr wird, eine Idee und schließlich eine Art Konzept.

Zurück am Schreibtisch, begann ich zu recherchieren und mich zu erinnern, um die Facetten der Nacht genauer zu erfassen. Ich bin am Rande eines Dorfes im Eggegebirge in Nordrhein-Westfalen aufgewachsen, wo abends die Straßenlaternen ausgingen und erst früh am nächsten Morgen wieder zu leuchten begannen. Dazwischen herrschte Finsternis. Später ging es fürs Studium in große Städte. Einen wirklich prächtigen Sternenhimmel habe ich dort seither nie erlebt und – wie mir jetzt klar wird – seltsamerweise