1 Europa kriecht an Land
Irgendwo zwischen Syrien und Libyen beginnt die Geschichte Europas. Und sie beginnt wie in einem bunten orientalischen Märchen. Aber es handelt sich nicht um ein Märchen aus »Tausendundeiner Nacht«, sondern um eine genuin griechische Geschichte, vielleicht sogar um die Mutter aller Geschichten: Göttervater Zeus hat sich in Europé, die Tochter des mythischen Phönikerkönigs Agenor, verliebt. Als sie am Strand mit Gefährtinnen spielt, taucht er in Gestalt eines Stieres auf. Um sie zu entführen. Er tut dies auf eine offenkundig so vertrauenserweckend-charmante Art, dass sie spontan, auf seinem Rücken reitend, mit ihm geht. Er schwimmt mit der schönen Last auf dem Rücken übers Meer nach Kreta. Dort verwandelt er sich zurück und zeugt mit ihr drei Söhne, darunter Minos, den späteren Erfinder des kretischenLabyrinths. Entsprechend einer früheren Verheißung Aphrodites, wurdedie neue Heimat nach ihr »Europa« benannt: Noch in der Nacht vor ihrer Entführung hatte Europé davon geträumt, dass zwei Kontinente sich um sie stritten: Asia und das zukünftige Europa. Asia wollte sie mit dem Argument an sich binden, dass sie doch hier geboren sei und deshalb hierhergehöre. Der neue Kontinent verwies darauf, dass der Mensch frei sei, zu gehen, wohin er wolle – und entführte sie in die neue Welt, nach Kreta.
Das griechische Märchen hat es also in sich. In anmutigen Bildern beschreibt es einen programmatischen Neuanfang, der mit einer Entführung beginnt und in einem Gründungsmythos endet. Auf Kreta wird Europé zur Mutter einer neuen, antilevantinischen Mittelmeerkultur – der gesamte Mittelmeerraum wird sozusagen neu vermessen und geht auf Kurs »West«. Und kein Geringerer als Zeus selbst stand Pate bei dieser Verpflanzung und Umwidmungen der alten ägyptisch-orientalischen Kulturen auf die Inseln der Ägäis. Ein geopolitischer Paradigmenwechsel par excellence.
Sich kulturell zu formieren, zu positionieren heißt auch, sich abzugrenzen und Trennungslinien zu ziehen. Das geschieht exemplarisch. Mythen fungieren als Inklusions- und Exklusions-Medien. Sie sindTeil eines göttlich legitimierten, menschlich gemachten politischenSchachspiels.
Und dieses »Europa« ist ein Kunstprodukt aus dem Geist der strategischen Abgrenzung. Da es im Mittelmeerraum kaum natürliche Grenzen gibt – das Meer galt den Griechen nicht als Barriere, sondern als Verbindung, sie nannten es»ho pontos«(»die Brücke«) –, musste man artifizielle, ideologische Abgrenzungen finden. Hinter der auf den ersten Blick etwas abstrus anmutenden kleinen Entführungsgeschichte steckt weit mehr. Wenn man so will, wird hier eine für Jahrtausende gültige kulturelle wie geopolitische Grenze zwischen West und Ost gezogen.
Denn auch das Nachspiel der Geschichte hat es in sich: Nach ihrer Landung auf der Geburtsinsel des Zeus wird die entführte Prinzessin zur Stammmutter einer neuen Dynastie. So wie Kreta zum Ausgangspunkt jener minoischen Kultur werden wird, die sich innerhalb kurzer Zeit über weite Teile des ägäischen Raums ausbreiten sollte. Funde belegen, dass der Einfluss der kretisch-minoischen Kultur bis ins östliche Mittelmeer reichte.
In den langen Jahrhunderten seiner Blüte (grob gerechnet zwischen 2500 un