1. KAPITEL
Als Cynthia Marcum ihre E-Mails überflog und eine von Dr. Sean Donavon sah, hielt sie inne. Ein Prickeln überlief sie. Warum schrieb er ihr? Bisher hatte sie immer nur mit seiner Büroleiterin Kontakt gehabt. Hatte sie etwas falsch gemacht?
Sie arbeitete jetzt etwas mehr als einen Monat für ihn. Er war Hals-Nasen-Ohren-Arzt in einer Klinik und einer von fünf Ärzten im Stadtgebiet von Birmingham, Alabama, für die sie Schreibarbeiten erledigte. Die Bezahlung war so gut, dass sie ihn trotz ihres ohnehin hohen Arbeitspensums als Kunden aufgenommen hatte, zumal ihre Brüder Mark und Rick ständig Geld brauchten.
Dies war allerdings nicht der einzige Grund dafür, dass sie für den geheimnisvollen Arzt arbeitete. Sie hörte ihm so gern zu. Deshalb hob sie seine Bänder immer bis zum Schluss auf. Wenn sie seiner tiefen, klangvollen Stimme lauschte, stellte sie sich unwillkürlich vor, wie er sie an einem kühlen Abend, wenn der Regen ans Fenster fiel, an sich zog.
Da sie nicht genug davon bekommen konnte, hörte sie sich seine Aufnahmen oft mehr als einmal an. Selbst die medizinischen Fachausdrücke klangen aus seinem Mund erotisch. Oft fragte sie sich, ob er genauso verführerisch aussah, wie er sich anhörte.
Sie schnaufte. Wahrscheinlich war er klein und kahlköpfig. Sie hatte das bereits einmal erlebt, als sie einem Radiomoderator begegnete. Anhand seiner Stimme hatte sie ihn sich jung und attraktiv vorgestellt, doch er war mittleren Alters, klein und grauhaarig gewesen.
Dr. Donavons Stimme zu lauschen hatte sich zu ihrer Flucht aus dem Alltag entwickelt. Da es momentan niemanden in ihrem Leben gab, füllte es diese Leere. Als ihre Eltern starben, war sie mit Dave zusammen gewesen, den sie auch heiraten wollte. Dann hatte sie jedoch das Erbe regeln und sich um ihre Brüder kümmern müssen und ihn zwangsläufig vernachlässigt.
Schon bald hatte er sich beschwert, dass sie nicht genug Zeit mit ihm verbrachte, und ihr schließlich klipp und klar gesagt, er wäre nicht daran interessiert, zwei Teenager mit großzuziehen. Schließlich hatte er ihr mitgeteilt, dass er eine andere hätte. In gewisser Weise war sie erleichtert gewesen, weil er sie und ihr Bedürfnis, ihre Familie um jeden Preis zusammenzuhalten, nicht verstanden hatte.
Nach der Trennung hatte sie sich nicht bemüht, einen neuen Freund zu finden. Sie war einige Male ausgegangen, hatte die Männer allerdings nie an sich herangelassen. Wenn diese erfahren hatten, dass sie für ihre jüngeren Brüder verantwortlich war, hatten sie immer schnell einen Rückzieher gemacht. So hatte sie sich schließlich damit abgefunden, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt für eine neue Beziehung war. Deshalb würde sie sich vorerst damit begnügen müssen, der Stimme von Dr. Donavon zu lauschen.
Cynthia zögerte, bevor sie die Mail öffnete und las.
Hallo Ms. Marcum,
meine Büroleiterin hat mir Ihren Namen gegeben, weil Sie die Schreibarbeiten für mich erledigen. Ich bin sehr beeindruckt von Ihrer Arbeit.
Ich schreibe Ihnen heute, weil ich gerade einen Antrag auf Forschungsgelder stelle und in den nächsten Wochen einige zusätzliche Berichte benötige. Deshalb möchte ich Sie fragen, ob Sie bereit sind, diese zusätzliche Arbeit zu übernehmen. Natürlich werde ich Sie dafür bezahlen.
Für Ihre Hilfe wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Mit freundlichen Grüßen
S. Donavon
Das klang