1. KAPITEL
Er war hier. Auch wenn sein Gesicht sonnengebräunt und nicht mehr so blass und schmal war. In den Augenwinkeln entdeckte sie Lachfältchen.
Was für ein beeindruckendes Gesicht, dachte sie benommen, während sie langsam wieder das volle Bewusstsein erlangte. Markant, wie aus Stein gemeißelt. In die tief liegenden grauen Augen hatte sie sich auf Anhieb verliebt, als er sie das erste Mal anlächelte. Und dieser sinnliche Mund. Was waren das für Küsse gewesen, bevor … bevor …
Der Nebel in ihrem Kopf löste sich auf. Unmöglich, er konnte nicht hier sein.
Aber er war es. Er lächelte nicht, doch das war auch nicht zu erwarten. Nicht mehr. Sie erinnerte sich kaum an Zeiten, in denen nicht diese Verzweiflung in seinen Augen gelegen hatte.
Trotzdem war irgendetwas anders. Er sah sie voller Besorgnis an – so als wäre er dazu noch fähig.
Dabei hatte sie sich um ihn Sorgen gemacht. Ihn verzweifelt geliebt.
Und ihn verloren.
Wie durch ein Wunder war er hier. Behutsam hatte er sie an den Schultern gepackt, als wollte er sie dazu bringen, ihn anzusehen. Deutlich fühlte sie seine Wärme. Seine Stärke.
Stärke?
„Corey“, flüsterte sie. Seine Miene blieb unverändert.
„Alles in Ordnung? Oder haben Sie beim Atmen Schmerzen?“
Es war nicht Corey. Seine Stimme klang anders. Viel tiefer.
Wer trieb solche grausamen Scherze mit ihr?
„Lass mich“, murmelte sie. „Mir geht es gut, Corey. Mir geht es immer gut.“
Hinter ihr rief jemand etwas. Eine andere Stimme, die sie nicht kannte. Laut, männlich und angsterfüllt.
„Kommen Sie schnell, Doc!“
Corey, ihr Corey, legte ihr die Hand auf die Stirn und strich ihr die Locken aus dem Gesicht.
„Bleiben Sie ruhig liegen“, sagte er. „Hilfe ist unterwegs.“
Sicher, dachte sie.
Es war ein Albtraum, eine Katastrophe, wie jeder Arzt sie fürchtete.
Dr. Devlin O’Halloran trat einen Schritt von der Frau zurück, die er kurz untersucht hatte. Sie war benommen, aber sie atmete normal. Mehr hatte er auch nicht überprüfen können. Alles andere musste warten.
Die Verletzten mussten der Reihe nach behandelt werden. Er hatte Prioritäten zu setzen. Leider gab es außer ihm hier keinen Arzt. Bei einem solchen Unfall hätte er mehr als nur ein paar Kollegen gebrauchen können.
Der Karington-Nationalpark, paradiesisch im australischen Queensland gelegen, galt als einer der schönsten der Welt. Der Regenwald grenzte ans Meer, und die grandiose Landschaft zog immer wieder Touristen an. Aber gegen Ende der Regenzeit waren die unbefestigten Seitenstreifen durchweicht, wodurch die Straßen an den steilen Kliffs besonders gefährlich waren. Der Holztransporter war mit zu hoher Geschwindigkeit in die Kurve gefahren und gegen einen voll besetzten Schulbus geprallt. Zu allem Unglück war auch eine Schwangere in ihrem Kleinwagen in den Unfall verwickelt worden.
Ein Lkw hätte diese Strecke gar nicht benutzen dürfen, dachte Devlin zornig.
So wie es aussah, hatte der Lastwagenfahrer vergeblich versucht, dem Bus auszuweichen, ihn dann vorn erwischt, bevor er mit seinem Transporter gegen den Hang geprallt war. Die ungenügend gesicherten Baumstämme waren von der Ladefläche gerollt, gegen den Bus gekracht und hatten ihn Richtung Straßenrand geschoben.
Dort ging es zehn Meter steil bergab. Am Fuß der Klippe brandete das Meer gegen scharfkantige Felsen.
Jetzt lag der Schulbus auf der Seite, direkt am Abgrund, und Devlin konnte nicht beurteilen, ob er nicht doch noch weiterrutschen und in die Tiefe stürzen würde.
Welch ein Chaos!
Wie sollte er allein damit fertig werden?
Als der Anruf ihn erreichte, hatte Devlin gerade einen Hausbesuch erledigt. Eine Notrufeinrichtung im Bus war direkt mit seinem Handy verbunden, da eins der Kinder schwer asthmakrank war. Jake, der Fahrer, hatte den Knopf gedrückt und gebrüllt, dass Devlin gebraucht würde. Danach riss die Verbindung ab. Devlin wendete seinen Wagen und fuhr die Schulbusroute ab, fluchend, weil Jake ihn im Ungewissen ließ. Anscheinend hatte der Junge einen Anfall erlitten.
Nachdem er die Unglücksstelle erreicht hatte, glaubte Devlin seinen Augen nicht zu trauen.
Apathisch saß der Lastwagenfahrer am Straßenrand. Offensichtlich stand er unter Schock. Fassungslos starrt