1. KAPITEL
„Wenn das nicht meine geliebte Ehefrau ist …“
Die tiefe, volltönende Stimme mit dem spöttischen Unterton ließ Jewel Johansson zusammenzucken.
Sie war gerade damit beschäftigt, eine Transportkiste zu packen, und fuhr nun hoch. Die Boote auf dem schlammigen rötlichen Wasser des Rio Solimões und die mit Stroh oder Wellblech gedeckten Hütten am Ufer verschwammen vor ihren Augen.
Nein, bitte nicht. Nicht er. Das konnte doch nicht sein!
Und doch war er es. Roque. Kein Zweifel. Die Stimme kannte sie unter Tausenden heraus.
Meine Ehefrau, hatte er gesagt. Nicht Exfrau.
Verschiedene Szenarien spulten sekundenschnell in Jewels Kopf ab. Und jedes brachte die Bitterkeit und Enttäuschung zurück, die sie längst überwunden zu haben glaubte.
Der Impuls, einfach wegzulaufen, sich gar nicht umzusehen, ob er tatsächlich da stand, war fast übermächtig. Sie wollte ihm nicht gegenübertreten, auf keinen Fall …
Stopp! Jetzt nicht die Nerven verlieren! Denk nach! Jewel wusste, dass Flucht keine Lösung war. Sie musste sich der Begegnung stellen.
Aber zuerst einmal galt es, den unerwarteten Schock zu überwinden und ihre Emotionen unter Kontrolle zu bringen. Das Beste würde sein, ganz normal mit ihrer Arbeit weiterzumachen. Also verstaute sie Medikamente und medizinische Ausrüstung in der Kiste.
Dann erst wandte sie sich mit der eindrucksvoll lässigen Körperhaltung, die sie als ehemaliges Model immer noch perfekt beherrschte, um. Sie schaute Roque an – konnte aber nicht verhindern, dass Tränen in ihr aufstiegen.
Die gleißende Vormittagssonne ließ sie blinzeln, und sie hob die Hand, um ihre Augen zu beschatten. Was würde wohl passieren, wenn ihre Blicke sich trafen? Aber das geschah nicht, denn seine Augen waren hinter den dunklen Gläsern einer Sonnenbrille verborgen.
Wieder einmal war er ihr gegenüber im Vorteil. Roque konnte sie sehen, ihr in die Augen schauen und ihre Gedanken und Gefühle erkunden. Er selbst jedoch verschanzte sich hinter einer Barriere aus getöntem Glas.
Roque stieß einen leisen Pfiff aus. „Also hatten die Leute recht, die mir von dir erzählt haben“, sagte er. „Sie haben mir allerdings verschwiegen, dass du noch schöner geworden bist.“ Er sprach Englisch mit dem weichen portugiesischen Akzent des Brasilianers.
Was sollte diese Bemerkung denn nun wieder? Wollte er etwa mit ihr flirten?
Ohne den Blick von ihm zu wenden, beobachtete Jewel, wie er auf sie zukam. Dicht vor ihr blieb er stehen. Sein Knie berührte ihr Bein, seine Schulter ihre. Jewel fuhr zurück, als hätte sie sich verbrannt.
Roque hatte sich seit damals kaum verändert. Er strahlte immer noch die geschmeidige Eleganz eines Panthers aus und jene unerschütterliche Selbstsicherheit, die ihr so imponiert hatte. Zehn Jahre war das jetzt her. Achtundzwanzig war er bei ihrer ersten Begegnung gewesen. Zwei Jahre lang hatte sich für Jewel alles nur um ihn gedreht.
Er war immer noch schlank, seine Schultern waren im Lauf der Jahre jedoch breiter geworden, und er hatte ein paar Kilo Gewicht zugelegt. Aber das fiel nur ihr auf, weil sie ihn von früher kannte. Sein Gesicht hingegen war mit den Jahren eher markanter geworden.
Als er langsam die Sonnenbrille abnahm und Jewel seine faszinierenden Augen sah, schrillten sämtliche Alarmglocken in ihr.
„Nun, willst du deinen bedauernswerten verlassenen Ehemann nicht umarmen?“ Wieder dieser ironische Ton.
Lass dich nicht beeindrucken. Sag was! Jewel atmete tief ein. „Hallo, Roque“, erwiderte sie so gleichmütig wie möglich. „Was führt dich denn nach Tabatinga?“
Sie war erleichtert, dass sie die Worte herausgebracht hatte, ohne sich ihre Aufregung anmerken zu lassen.
„Hallo, Roque.“ Er ahmte ihren Ton nach. „Ist das alles, was du nach acht Jahren zu sagen hast,minha Jóia?“
Minha Jóia – mein Juwel. So hatte er sie in Anspielung auf ihren Vornamen immer genannt, wenn sie in seinen Armen gelegen hatte.
Was war nur mit ihr los? Warum waren ihr diese Erinnerungen plötzlich so klar und eindeutig präsent, als sei das alles erst gestern passiert? Es war doch längst vorbei und vergessen.
„Was mich nach Tabatinga führt …“ Er unterbrach sich und musterte sie forschend. Unwillkürlich folgte sie seinem Blick. Verflixt! Ihr dünnes olivgrünes T-Shirt klebte in der feuchten Hitze am Körper, und die Spitzen ihrer Brüste, die sich deutlich unter dem Stoff abzeichneten, verrieten, dass sie auf sein Erscheinen nicht so cool reagierte, wie sie ihm weismachen wollte.
Den Bruchteil einer Sekunde verharrte sein Blick auf ihren Brüsten, bevor er den Kopf hob und Jewel anschaute. „Was sollte mich schon hierher in den Urwald locken, wenn nicht der brennende Wunsch, dich wiederzusehen,minha Jóia?“
Wie kam er dazu, mit ihr zu flirten? Und das tat er, kein Zweifel.
Noch eine Veränderung registrierte Jewel bei ihm. Eine beunruhigende. Der Roque Aguiar Da Costa, den sie gekannt hatte, war liebenswürdig und charmant gewesen. Der Roque aber, der jetzt vor ihr stand, strahlte eine unübersehbare Aura von Här