: Valerie Schönian
: Halleluja Wie ich versuchte, die katholische Kirche zu verstehen
: Piper Verlag
: 9783492990530
: 1
: CHF 10.90
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: Sonstiges
: German
: 368
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Glaube ist Valerie Schönian fremd. Die junge Journalistin lebt ein typisches Mittzwanziger-Leben in Berlin, als sie gefragt wird, ob sie für ein Projekt der katholischen Kirche einen Priester begleiten möchte. Sie wagt das Experiment und macht sich für ein Jahr auf nach Münster-Roxel, in die Gemeinde von Franziskus von Boeselager. Dort erlebt sie ihn beim Früh-, Mittag- und Abendgebet. Sie begleitet ihn bei Messdienerfahrten, Krankenbesuchen und in den Vatikan. Und vor allem stellt sie Fragen: Wieso wird man heutzutage Priester? Warum sind Frauen vom Priesteramt ausgeschlossen? Und was macht Franziskus eigentlich, wenn nicht Sonntag ist?

Valerie Schönian, Jahrgang 1990, wuchs in Magdeburg auf. Für ihr Studium der Politikwissenschaft und Germanistik ging sie nach Berlin und absolvierte anschließend die Deutsche Journalistenschule in München. Heute lebt sie als freie Journalistin in Berlin und arbeitet u.a. für das Leipziger Büro der ZEIT.

Welten übereinanderlegen


April2016

Wo fängt man ein Verstehen an?

Als ich Franziskus frage, ob er »Deine-Mutter-Witze« kennt, fragt er zurück, ob er schon einmal Witze über seine Mutter gemacht haben soll. Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Also frage ich weiter.

»Schaust duGame of Thrones?«

»Kenne ich nicht.«

»Und Serien auf Netflix?«

»Wie?«

»Dem Streamingdienst. Du bezahlst ein paar Euro im Monat und kannst Tausende Serien und Filme sehen.«

»Keine Zeit.«

Man könnte jetzt sagen, es gibt Wichtigeres, was man einen Priester fragen müsste: Wer bin ich, wer sind wir, wo ist Gott, und wo war er eigentlich in Auschwitz. Mach ich auch noch. Aber nachdem mir bewusst wurde, dass ich tatsächlich ein Jahr mit einem katholischen Priester verbringen werde, es also wirklich noch katholische Priester gibt und sie in dieser Welt leben, wollte ich erst mal herausfinden, welche meiner Normalitäten denn auch für ihn normal sind. Ich stelle mir unsere beiden Lebensrealitäten als zwei Schablonen vor, die ich jetzt übereinanderlege, um zu sehen, wo es Überschneidungen gibt. Denn ich habe wirklich keine Ahnung, wie ein Priester lebt. Klar, wir haben in den vergangenen Jahren sonntagvormittags vermutlich nie das Gleiche gemacht. Doch sonst? Es hätte ja sein können, dass auch Priester jeden Abend Filme und Serien streamen, wie jeder. Dass nur keiner darüber spricht, weil es so selbstverständlich ist. Oder nicht? War völlig klar, dass sie es nicht tun – ob wegen fehlender Zeit oder der Gefahr plötzlich aufblitzender nackter Haut –, und nur ich weiß das nicht?

Ich habe mir vorgenommen, Franziskus wirklich alles zu fragen, vom ersten Gedanken morgens bis zum letzten abends, weil meine Selbstverständlichkeiten in Franziskus’ Leben ja nicht greifen. Dann dachte ich, vielleicht tun sie das ja doch. Und ich bin nur voller Vorurteile, weil der Mann einen weißen Plastikstreifen unter seinen Hemdkragen gesteckt hat.

Aber jetzt scheint er nicht einmal zu wissen, was ich meine, wenn ich »Deine-Mutter-Witze« sage.

Franziskus, groß, blond, schlank, glasklare blaue Augen, schaut über das Lenkrad seines Peugeot 1007 in die Landschaft Nordrhein-Westfalens. Er ist 38 Jahre alt, wirkt aber jünger. Auf seiner Nase sitzt eine beinahe rahmenlose Brille, vor seinem Kehlkopf steckt das kleine Stück weißes Plastik, wie man es aus Filmen kennt, das sogenannte Kollar. Es zu tragen ist keine Pflicht für Priester, Franziskus trägt es immer.

Wir sind unterwegs zu seinem Steuerberater, zwei Stunden Fahrt liegen vor uns, Zeit genug für ein bisschen Schablonieren der Welten. Am Rückspiegel zwischen Franziskus und mir baumelt ein Kreuz aus Holz, auf dem Zigarettenanzünder