: Felix Heidenreich
: Demokratie als Zumutung Für eine andere Bürgerlichkeit
: Klett-Cotta
: 9783608119251
: 1
: CHF 17.10
:
: Politik
: German
: 336
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Demokratien brauchen aktive Demokraten. Beteiligung an politischen Entscheidungen war in der Antike in Athen Privileg und Pflicht. Spricht man Bürgerinnen und Bürger angemessen und nicht als schonbedürftige Kinder oder nutzenmaximierende Konsumenten an, werden aus Privileg und Pflicht Verantwortung. Diese andere Bürgerlichkeit mag eine Zumutung sein. Sie macht vor allem: Mut auf mehr und Mut auf die selbst mitgestaltete Zukunft. Die Demokratie wird angegriffen. Aber die Verteidigungsfront verläuft nicht nur in der Ukraine, in Hong Kong, Taiwan, Afghanistan. Nicht nur äußere Feind bedrohen die Freiheit, sondern auch eine Erosion demokratischer Haltungen und Gewohnheiten. Eigentlich handelt es sich aber um eine tiefe Entfremdung zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und den Repräsentanten Ihres Staates. Während die Menschen in der Ukraine einen Heroismus zeigen, der uns fremd geworden ist, fragen wir uns, was uns  das Leben in der Demokratie wert ist? Felix Heidenreich zeigt in seinem Buch vor, dass die demokratische Selbstregierung immer auch eine Zumutung war. Dabei geht es nicht nur um die einfache Erfüllung von Pflichten. Erst als Antwort auf eine angemessene Ansprache werden die Menschen zu Bürgerinnen und Bürgern in einem starken Sinne, zu citoyens, die Politik nicht wie nörgelnde Kinder konsumieren, sondern verantwortlich mitgestalten.

Felix Heidenreich ist Philosoph und Politikwissenschaftler. Er forscht zu Fragen der Demokratietheorie, der Kulturphilosophie und der Wirtschaftsethik.

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Krisendiagnosen im Vergleich


Im Juni 2016 veranstaltete ich eine deutsch-französische Tagung mit britischer Beteiligung. Das Thema lautete:Konstellationen der Souveränität in Europa. Wir hatten uns vorgenommen, der Wiederkehr einer Rhetorik der Souveränität nachzugehen. Nicht nur in Frankreich forderte Marine Le Pen, ihr Land müsse endlich wieder souverän werden. Auch in Großbritannien war im Rahmen der Brexit-Kampagne beständig der Verweis auf Souveränität zu hören.Take Back control!

Seit 2015 war auch in Deutschland der Ruf nach nationaler Souveränität lauter geworden. In einem interdisziplinären Setting wollten wir nachvollziehen, welche ideengeschichtlichen Topoi hier verwendet, welche staatsrechtlichen Fragen hier aufgeworfen und welche Konstruktionsprobleme in derEU damit zu Recht thematisiert wurden. Denn meist war die Rede von der »Souveränität« vor allem gegen dieEU gerichtet: Sie zerstöre die nationale Souveränität und damit die nationalstaatliche Demokratie. Wir hörten Beiträge aus dem Staatsrecht und den Medienwissenschaften. Hat dieEU wirklich ein Demokratiedefizit? Worin genau besteht es? Wie verhalten sich verschiedene Ansprüche auf Souveränität zueinander? Ist dieEU ein Mechanismus, der Nationalstaaten die Ausübung von Souveränität in einer globalisierten Welt allererst ermöglicht? Wie plausibel ist der Begriff überhaupt noch? Das waren unsere Fragen.

In den Kaffeepausen war das anstehende britische Referendum Thema.That’s not going to happen, war man sich einig. »Mit derEU im Rücken können die Briten in Hongkong vielleicht noch ein Wörtchen mitreden, ohneEU sind sie ein Zwerg.« »So blöd sind die Briten nicht.« Doch eine britische Teilnehmerin war vorsichtiger. »Wer weiß, was alles passiert.« Die Unzufriedenheit in ihrer Heimat sei groß. Wer immer nur nach London reise, mache sich keine Vorstellung davon, wie perspektivlos die Lage in manchen Regionen Englands sei, wie tief der englische Nationalismus sitze.

Wenige Tage später kam der große Knall. Boris Johnson feierte seinenIndependence Day. Nigel Farage triumphierte. Über Jahre als Spinner verhöhnt, hatte er es allen gezeigt. Die Briten waren raus, und dieEU stand da wie ein Verein von Trotteln. Aber auch die Politikwissenschaft hatte Grund für Selbstzweifel. Kaum jemand hatte den Brexit kommen sehen. Und als rund ein halbes Jahr später Donald Trump gewählt wurde, ging die zweite kalte Dusche auf das Haupt der politikwissenschaftlichen Expertinnen und Experten nieder. Niemand hatte dies für möglich gehalten, nicht nur aufgrund der Umfrageergebnisse, sondern weil die Phantasie schlicht nicht ausreichte, sich Trump tatsächlich als Präsidenten auszumalen.

Verantwortlich für diesen Mangel an Phantasie war wohl eine gewisse universitäre Betriebsblindheit. Welcher Akademiker kennt schon die Reality-Show »The Donald«? Selbst der Besitz eines Fernsehers gilt in manchen akademischen Kreisen bereits als untrügliches Zeichen einer gefährlichen Verlotterung. Eine größere Gefahr ist die Projektion rationalen Verhaltens auf eine Wählerschaft, die nach ganz anderen, viel stärker erratischen Kriterien urteilt. Die »Wissenschaft« möchte gerne einen Gegenstand haben, der sich auch für eine rationale Untersuchung eignet: rationale Wähler, strategisch denkende Eliten, langfristige Pläne. Dass viele Wählerinnen und Wähler gar nicht wissen, wen sie wählen, dass Entscheidungen auf Stimmungen und Bildern, nicht auf abgewogenen Präferenzen beruhen, weiß man zwar irgendwie, aber es ist schwer die Konsequenzen zu ziehen.

Sollte man also öfter dieBILD-Zeitung, dieGala, dasGoldene Blatt lesen, um die Krise der Demokratie zu verstehen? Müssen wir auf die medialen Misthaufen dieser Welt steigen, zuFoxNews, ins deutsche Privatfernsehen, in die Facebook-Gruppen und Chats der Rechtsextremen, um zu verstehen, was geschieht? Mit welchen Mitteln, aus welcher Perspektive, mit welchen begrifflichen, wissenschaftlichen, statistischen Mitteln lässt sich die Krise der Demokratie angemessen beschreiben?

Der Politikwissenschaftler Yascha Mounk stellte 2016 in einem immer noch bemerkenswerten Artikel dem eigenen Fach ein schlechtes Zeugnis aus: Verliebt in die eigenen Methoden, die Korrelationsanalysen und Rationalitätsmodelle, sei seine Disziplin betriebsblind geworden.[1] Nicht zu wenig, zu viel komplizierte Methodik sei das Problem.

Diese Verunsicherung über die angemessene Arbeitsweise des Faches muss man im Hinterkopf behalten, wenn man die politikwissenschaftliche Debatte über die Krise der Demokratie rekonstruieren will: In vielen Fällen unterscheiden sich nicht erst die Folgerungen und Ergebnisse, sondern bereits die Werkzeuge fundamental. Wer Zahlen sehen will, wird anderes finden als jene, die auf Symbole, Gefühle, politische Phantasien, das sogenannte »politische Imaginäre« blicken. Die Tatsache, dass der Aufstieg Trumps weite Teile des Fachs so kalt erwischt hat, sollte durchaus Anlass dazu geben, das wissenschaftliche Instrumentarium in Frage zu stellen, mit dem in der Regel über Demokratie geforscht wird.

Die Anfeindung von innen


Januar 2020. Der Blick in die Nachrichten bietet ein nahezu apokalyptisches Bild. Soeben ist der iranische General Soleimani in Bagdad durch eine amerikanische Drohne getötet worden. Der Iran kündigt Vergeltungsmaßnahmen an. Auf den Straßen Teherans und Kermans, der Heimatstadt des Generals Soleimani, schwören Hunderttausende Anhänger den Amerikanern Rache. Doch damit nicht genug. Der amerikanische Präsident droht dem Iran, als Reaktion auf mögliche Angriffe kulturelle Ziele anzugreifen. 52 sollen es sein – genau die Anzahl der amerikanischen Geiseln, die einst in der Botschaft in Teheran festgehalten wurden und deren Demütigung im Nachgang der iranischen Revolution wie eine offene Rechnung zwischen den beiden Regierungen steht.

Vor dem inneren Auge stehen die Bilder der berühmten Moscheen von Isfahan, die Ruinen von Persepolis, die Wüstenstadt Yazd. Die Welt horcht auf. Könnte das eine Falschmeldung gewesen sein? Oder hat tatsächlich der Präsident derUSA, der, so wird stets gesagt, ältesten Demokratie der Welt, mit Taten gedroht, die unzweifelhaft als Kriegsverbrechen zu werten wären? Taten, die dieUSA auf dieselbe Stufe wie die Taliban stellen würden, deren Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan 2001 ihren Ruf als Barbaren nährten, auf dieselbe Stufe wie denIS, der mit der Zerstörung vom Palmyra einen weiteren Mosaikstein in ein Schreckensbild legte?

August 2020. Dieses Mal befinden wir uns nicht in denUSA, sondern in Deutschland, in Berlin, auf der Treppe des Reichstagsgebäudes. Ein Samstag, der 29. August. Soeben wurde eine Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen aufgelöst. Plötzlich überwinden rund 400 Rechtsextreme mit Reichsflaggen die behelfsmäßigen Absperrungen vor dem Reichstagsgebäude und stürmen die Treppe. Die Polizei ist nicht nur überrumpelt, sondern vor allem unterbesetzt. Mit großem Mut stellen sich einige wenige Beamte der Meute in den Weg. Später wird sich herausstellen, dass es sich bei dieser Attacke keineswegs um eine spontane Aktion handelte. Gegen die Heilpraktikerin Tamara K. werden Ermittlungen wegen »aufwieglerischen Landfriedensbruchs« eingeleitet. Sie stand kurz zuvor vor der russischen Botschaft zwischen Reichskriegsflaggen und Neonazis am Mikrophon. Sie wähnt sich offenbar im Kampf gegen eine kommende Corona-Diktatur und hatte im Milieu der »Reichsbürger« für den Sturm des Parlaments plädiert. Fotos zeigen eine junge Frau aus der Eifel mit Meditationsarmband und langen Rastafari-Haaren. Nun heizt sie dem Mob ein und ruft dazu auf, sich das »Hausrecht« »zurückzuholen«. Die Bilder aus Berlin gehen um die Welt. Selbst der Bundespräsident...